"Die Erinnerung ist nichts Abstraktes... Sie ist eine Substanz, eine lange Faser, die sich um die Wirklichkeit wickelt, sie mit Bildern aus fernen Zeiten verknüpft, deren Vibrationen verlängert und ihre Strömung bis in die verästelten Nerven des Körpers weiterleitet." (Jean-Marie Gustave Le Clézio, "Revolutionen", Kiepenheuer und Witsch, Köln 2006)
Als Traumatherapeuten haben wir, mehr noch als in anderen Therapieansätzen, immer wieder mit Erinnerungen zu tun. Mit denen unserer Patienten vor allem, aber auch mit unseren eigenen. Zusammengesetzt aus unserer eigenen Geschichte, erworbenem Wissen und gemachten Erfahrungen sind sie die Grundlage unserer Arbeit. Sich dieser Basis wieder einmal bewusster zu werden und gleichzeitig neue Anregungen zu bekommen, dazu diente der nunmehr zweite Absolvententag des Instituts für Traumatherapie Oliver Schubbe in Berlin, an dem ich vor kurzem teilnehmen konnte.
Das Institut hat es sich seit 1999 zur Aufgabe gemacht, die Ausbildung in EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) nach den anerkannten Kriterien zu vermitteln, andererseits aber auch einen breiteren Zugang zu traumatherapeutischem Arbeiten durch die Einbeziehung ergänzender Verfahren anzubieten. Oliver Schubbe, Leiter des Instituts, wies in seiner Einführung darauf hin, dass EMDR seit seiner Entwicklung in den 90er Jahren ständig weitergereift und von einer kaum beforschten, empirischen Methode zu einem etablierten Vorgehen geworden sei, das mittlerweile durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten in seiner Wirksamkeit bestätigt wurde. Daher sei das Anliegen entstanden, ehemaligen Ausbildungsteilnehmern die Gelegenheit zu geben sich, über den aktuellen Stand der Arbeit mit EMDR zu informieren und daneben benachbarte, neu entwickelte Methoden zumindest in "Kostproben" kennenzulernen.
Den Anfang machte Lydia Handtke, die den Ansatz eines optimierten Vorgehens in der Traumabehandlung unter Einbeziehung der vorhandenen Ressourcen vorstellte. Sie leitet am Institut Seminare zur strukturierten Traumaanamnese und Behandlungsplanung für EMDR und Brainspotting und machte deutlich, dass sie darunter keine Formalität versteht, sondern bereits einen wesentlichen Teil des therapeutischen Prozesses. So sei neben dem Aufspüren traumatischen Materials bereits in der Anamnese die gezielte Suche nach "Gegengewichten" notwendig. Die genaue emotionale Qualität und Bedeutung dieser Ressourcen eingehend zu ermitteln, sei dabei essentiell, um ihren tatsächlichen Stellenwert für die Stabilität der Betroffenen einschätzen zu können.
Wichtige Hinweise gebe eine gezielte Traumaanamnese auch für die Bedeutung des Alters und der Verkettung von Traumata. Wie lange ein Trauma zurückliegt, bzw. in welchem Entwicklungsabschnitt eine Klientin davon betroffen wurde, beeinflusse die Behandlungsplanung ebenso wie die Tatsache, ob und wie mehrfache Traumatisierungen miteinander in Zusammenhang zu bringen seien.
Im Rahmen der narrativen Erforschung der Anamnese könne bereits ein Bild davon entstehen, inwieweit die Klientin kognitiven und affektiven Zugang zu ihrem Erleben hat oder aber dieses dissoziativ abgespalten ist. Unabdingbar sei es auch, so Lydia Handtke, dass in der Anamneseerhebung selbst gezielt ein ressourcenvoller Zustand hergestellt werde. Nur so könne sich trotz der Konfrontation mit traumatischem Material bereits zu Beginn der Behandlung das Gefühl einer sicheren Basis in der therapeutischen Beziehung entwickeln.
Dazu sei es auch hilfreich und ein wichtiges Ziel ihrer Seminare, dass sich die Therapeutin selbst ihrer vielfältigen eigenen Ressourcen (zu denen neben verschiedene "Techniken" vor allem eine empathische aber auch selbstfürsorgliche therapeutische Haltung gehöre) bewusst werde, damit sie diese dann individuell in der Begleitung der Klientin einsetzen könne.
Wie reichhaltig mittlerweile das Repertoire ist, das Therapeuten in ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen dienlich sein kann, wurde in den anschließenden Vorträgen deutlich. Exemplarisch seien einige herausgegriffen:
So hatten die Teilnehmer, viele offensichtlich zum ersten Mal, die Gelegenheit von einer aus dem "Dunstkreis" des EMDR entstandenen Methode, dem "Brainspotting" (von engl. to spot, beobachten bzw. orten, lokalisieren) zu hören. Christa Ludwig-Trendel, mittlerweile eine der ersten Ausbilderinnen und Supervisorinnen auf diesem Feld, berichtete, wie ihr Begründer David Grand, ein ehemaliger Mitarbeiter von Francine Shapiro, sie empirisch entwickelt hatte.
Dabei habe er während einer EMDR-Sitzung mit einer jungen Eisläuferin, die Schwierigkeiten hatte, einen technisch nicht übermäßig schwierigen Sprung auszuführen, festgestellt, dass es an einer bestimmten Blickposition immer wieder zu kurzen Pausen kam. Nachdem er die Klientin aufgefordert habe, an dieser Position den Blick zu halten, kam ein tiefgreifender assoziativer Prozess in Gang, in dessen Verlauf eine Verknüpfung der Schwierigkeiten bei dem Sprung mit früheren emotionalen Traumata deutlich wurde und aufgelöst werden konnte. Die junge Frau war daraufhin in der Lage, den "Rittberger" problemlos auszuführen.
Neben diesem Zugang durch das "äußere Fenster", bei dem der Therapeut auf feine, reflexartige Phänomene (Blickstopp, Blinzeln, Gähnen, emotionaler Ausdruck) achtet, beschrieb Ludwig-Trendel auch den Zugang über das "innere Fenster", bei dem der Klient selbst beobachtet, bei welcher Blickposition eine zuvor fokussierte Emotion, ein Körpergefühl oder ein Bild am deutlichsten wahrnehmbar ist.
Ergänzt werden könne das Vorgehen noch durch den simultanen Einsatz bilateraler akustischer Stimulation. Dabei könne durch parasympathische Aktivierung ein prinzipiell ressourcenvoller Zustand hergestellt und gleichzeitig die integrierende Prozessierung im Gehirn unterstützt werden.
Im Unterschied zum EMDR scheint es dabei nach den bisherigen Erfahrungen mit Brainspotting möglich zu sein, "gezielter" und gleichzeitig "profunder" an einzelnen Assoziationspunkten zu arbeiten.
Über die physiologischen Grundlagen der Methode kann bisher nur spekuliert werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sie offensichtlich die Möglichkeit bietet, gerade bei Prozessen, die nicht (mehr) narrativ erinnert werden, einen Zugang zum Unbewussten herzustellen und auf diese Weise Erinnerungsspuren, die sich nur im limbischen System bzw. auf einer prozeduralen Gedächtnisebene eingegraben haben, einer Verarbeitung auf der deklarativen Bewusstseinsebene zugänglich zu machen.
Neben dem Einblick in das methodisch/technische Vorgehen war es Christa Ludwig-Trendel dabei besonders wichtig, auch die allgemeine therapeutische Haltung, die sich in dem Verfahren widerspiegelt, zu vermitteln: Sie beschrieb Brainspotting als einen "offenen Prozess", in dem die Betroffenen selbst eine eigene kreative Lösung ihrer Probleme entwickeln. So wie David Grand dies sehr eingängig zu seiner Formel:
"Bewusstsein = (Neugier - Hypothesen) + (Möglichkeiten - Erwartungen)" zusammengefasst habe.
Eine prinzipiell ähnlich offene Haltung finde sich, so Kai Fritzsche, auch in der Ego-State-Therapie. Der Verhaltens- und Hypnotherapeut vermittelt diesen Ansatz der "Teile-Arbeit" seit kurzer Zeit auch im IT. In kurzen Zügen sei hier nur auf den Bezug zur Traumatherapie eingegangen, welche sich vor allem in einigen Grundannahmen, weniger durch spezifische Techniken zeigt. Das Persönlichkeitsmodell der EST gehe von einem Kontinuum aus, so Fritzsche, in dem das Selbst prinzipiell, auch beim seelisch Gesunden, durch eine "Vielheit" charakterisiert sei. Kritisch werde es jedoch, wenn einzelne Teile dem Bewusstsein überhaupt nicht zugänglich, bzw. so voneinander getrennt seien, dass sie nichts voneinander wüssten, bzw. es "zu Verwechslungen" kommen könne. Im Extremfall könne dies bis zur Dissoziativen Identitätsstörung gehen. Wesentlich sei jedoch, dass neben traumatisierten oder introjizierten (auto-)aggressiven Teilen immer auch ressourcenvolle Anteile vorhanden seien. Wenn diese, z. B. mit Hilfe eines "inneren Beobachters", aufgespürt werden würden, könnten sie den therapeutischen Prozess, auch in der Auseinandersetzung mit traumatischem Material, wirksam begleiten. Aus der Beobachterposition heraus könne dann auch allmählich eine Vorstellung entwickelt werden, wie die verschiedenen Anteile in einer Art "friedlicher Koexistenz" in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden könnten.
Wie das Teilemodell der EST in einen konkreten, imaginativen traumatherapeutischen Ansatz einfließen kann, hat Jochen Peichel (1) an dieser Stelle vor kurzem vorgestellt. Er bezog sich dabei eingangs auf die Arbeit von Gabriele Kahn, die die von ihr ausgearbeitete Methode "Das Innere-Kinder-Retten" (2) nennt. Die Autorin trug ihren Ansatz, den sie mittlerweile auch zu einer eigenen Methode ausgebaut hat und in einem Seminar vermittelt, vor. Auch sie betonte ausdrücklich die Notwendigkeit einer ressourcenvollen Basis für die Traumaarbeit und stellte dabei insbesondere in den Vordergrund, dass die Beendigung von Täter- und Mittäterkontakten ihrer Erfahrung nach unabdingbar für eine gelingende Traumatherapie sei. Erst danach könne mithilfe einer "modifizierten Beobachtermethode" der Kontakt zu den traumatisierten "Innenkindern" hergestellt werden, um sie dann zu "retten". Diese Rettungsaktion finde letztlich in einem Zustand "positiver Dissoziation" statt und werde von einem imaginierten "inneren Helfer" durchgeführt, während die Erwachsene mit ihrer bewussten Aufmerksamkeit an ihrem "Sicheren Ort" verbleibe. Erst wenn das Kind an einem ihm gemäßen, eigenen sicheren Ort angelangt sei, werde die Erwachsene aufgefordert, sich "vom Gelingen der Rettungsaktion zu überzeugen", so Kahn.
Wie spezielle EMDR-Protokolle störungsspezifisch eingesetzt werden können, beschrieb in ihrem sehr strukturierten Vortrag Katharina Drexler. Neben der Arbeit mit psychosomatisch Erkrankten widmet sich die in Köln niedergelassene Ärztin speziell auch der Arbeit mit transgenerational weitergegebenen Traumata.
Dass traumatische Ereignisse über die Generationen als Belastungsfaktoren wirken können, ist empirisch bereits länger bekannt. So zitierte Drexler die Untersuchungen von Ermann, der das Vorkommen von PTBS bei Kriegskindern und Kriegsenkeln nachwies (3). Auch über die transgenerationale Wirkung des Holocaust wurde in der Literatur bereits mehrfach berichtet. In einer 2005 veröffentlichten Studie konnte die amerikanische Psychologin Rachel Yehuda nachweisen, dass Kinder von Frauen, die als Schwangere den 11. September miterlebt und eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hatten, einen erniedrigten Cortisolspiegel und somit selbst ein erhöhtes Risiko für eine PTBS aufwiesen (4).
Die Auseinandersetzung mit dem "vererbten" Trauma könne aber, so Drexler, nicht direkt stattfinden, da es kein eigenes Erleben des Klienten gibt. Daher müsse in der Arbeit ein Weg gefunden werden, symbolisch den Zugang zu den Traumaintrojekten zu finden. Dies könne durch das Konzept der "inneren Bühne" geschehen. Auf dieser könne der Therapeut die traumatisierten Akteure direkt ansprechen. Ebenfalls in einer Art Teilearbeit könne mit ihnen dann eine Traumabearbeitung z. B. mittels EMDR erfolgen.
Dass EMDR heute eine Vielzahl von Einsatzbereichen bis hin zur Paartherapie hat, wurde in einer Übersicht über den diesjährigen EMDR-Kongresses in Amsterdam deutlich. Diese gab Claudia Erdmann, EMDR-Trainerin und Supervisorin am Institut, all den Teilnehmern, die selbst nicht an der internationalen Veranstaltung hatten teilnehmen können.
Auch Oliver Schubbe stellte in seinem abschließenden Vortrag nochmals den Bezug zum EMDR her. Dabei vermittelte er zunächst in einer kurzen Zusammenfassung den aktuellen "state of the art", was das derzeit anerkannte Vorgehen betrifft. Daneben machte er jedoch darauf aufmerksam, dass mittlerweile neben dem Einsatz der Augenbewegungen auch andere bilateral stimulierende Zugangswege wie das "tapping", das Beklopfen der Handinnenflächen oder Oberschenkel, etabliert sind. Körperliche Berührung könne jedoch auch darüber hinaus vielfältig in der Traumatherapie genutzt werden: So könne sie, in respektvoller und achtsamer Weise eingesetzt, unter anderem zur Affektregulation und zum Auflösen von Dissoziationen dienen.
Wie schon beim letzten Absolvententreffen wurde der Ausklang des Tages in unterhaltsamer Weise durch das Playbacktheater Berlin gestaltet. Darstellerisch und musikalisch verwandelten die Akteure spontan mitgeteilte Eindrücke der Teilnehmer in heitere aber auch berührende Improvisationen und machten so zum Abschluss deutlich, dass therapeutische Arbeit neben aller Ernsthaftigkeit auch viel mit Kreativität und Spaß zu tun haben kann.
Literatur
1. Peichl J.: Teilearbeit bei traumaassoziierten Störungen. Trauma und Gewalt 3 (2009) 160-169
2. Kahn G.: Das Innere-Kinder-Retten - eine Methode der imaginativen Traumatherapie. Trauma und Gewalt 1 (2008) 48-52
3. Ermann M.: Kriegskinder im Forschungsinterview. Zs. f. Individualpsychologie 32 (2007) 304-311
4. Yehuda R. et.al.: Transgenerational effects of posttraumatic stress disorder in babies of mothers exposed to the World Trade Center attacks during pregnancy. J. Clin. Endocrinol. Metab. 90 (7) 2005 4115-8