Druckversion von https://www.traumatherapie.de/users/dobe/dobe.html
Alle Rechte beim Institut für Traumatherapie Oliver Schubbe bzw. beim Autor.
auch erschienen in: Trauma & Gewalt 1 (2013), S. 40-47
Kinder und Jugendliche mit Schmerzstörungen leiden häufig auch an Ängsten aufgrund belastender und traumatischer Erfahrungen. Neuere Studien zeigen, dass die Angstsensitivität einen zugrundeliegenden Faktor darstellt, über den es zu wechselseitigen interozeptiven Konditionierungsprozessen zwischen Schmerzen und Ängsten oder Erinnerungen aufgrund belastender oder traumatischer Lebensereignisse kommen kann. Verfahren der interozeptiven Reizexposition scheinen auf der Basis bisheriger Studien geeignet, über eine Verringerung der Angstsensitivität sowohl eine Linderung der Schmerzals auch Traumasymptomatik erzielen zu können. Die Methode der Schmerzprovokation stellt eine Variante der interozeptiven Reizexposition für Kinder und Jugendliche mit Schmerzstörungen dar. Die Schmerzprovokation ist das bislang einzig beschriebene und evaluierte Verfahren zur Behandlung von Kindern mit sowohl einer Schmerzstörung als auch einer komorbiden Anpassungs- oder Traumafolgestörung. Neben der Erläuterung des Vorgehens wird auf die bisherige wissenschaftliche Datenlage zur Wirksamkeit eingegangen.
Schlüsselbegriffe Kinder, Schmerzstörung, interozeptive Reizexposition, Trauma, Schmerzprovokation
In der ambulanten und stationären Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen begegnet uns häufig die Kombination von chronischen Schmerzen mit erhöhter emotionaler Belastung infolge belastender oder traumatischer Lebensereignisse. Prävalenzstudien bei Erwachsenen lassen eine hohe Komorbidität von zum Teil über 50 % zwischen chronischem Schmerz und einer erhöhten emotionalen Belastung infolge von belastenden oder traumatischen Lebensereignissen vermuten (z. B. Asmundson et al., 2002; Olsen et al., 2003).
Young-Casey et al. (2008) stellten fest, dass eine vergangene Traumatisierung ohne Bezug zur aktuellen Schmerzsymptomatik einen signifikanten Einfluss darauf hat, ob aus akuten Rückenschmerzen chronische Rückenschmerzen werden. Katz et al. (2009) konnten darüber hinaus zeigen, dass präoperativ erhöhte PTBS Symptom-Scores sehr hoch mit der schmerzbezogenen Lebensbeeinträchtigung sechs und zwölf Monate nach einer sehr schmerzhaften Operation (laterale Thorakotomie) korrelierten. Die Autoren vermuten, dass in diesem Zusammenhang das Wahrnehmen starker Schmerzen als ein traumatischer Stressor verarbeitet wird.
Die wenigen Studien, die diese Zusammenhänge bei Kindern untersuchen, zeigen, dass das Miterleben oder Mitansehen häuslicher Gewalt (auch wenn sie selbst nicht Opfer der Gewalt sind) ein sehr guter Prädiktor für das Vorliegen chronischer Bauchschmerzen darstellt (Sansone et al., 2006). Dazu passend fanden Seng et al. (2005) heraus, dass das Vorhandensein einer posttraumatischen Belastungsstörung deutlich das Risiko für das Vorhandensein chronischer Bauchschmerzen bei Kindern von 9 bis 17 Jahren erhöht (Odds Ratio von 4,5 bei einer einfachen PTBS und Odds Ratio von knapp 15 bei einer komplexen PTBS).
Verschiedene Studien, welche die hohe Komorbidität zu erklären suchen, kommen zu dem Schluss (u. a. Asmundson et al., 2002; Jakupcazk et al., 2006; Wald et al., 2010), dass traumatische Lebensereignisse und chronische Schmerzen sich über Prozesse der interozeptiven Konditionierung in Abhängigkeit von dem gemeinsamen Faktor der Angstsensitivität gegenseitig aufrechterhalten und verstärken. In diesen Fällen ist eine parallele Behandlung traumatischer Symptome und chronischer Schmerzen nötig (z. B. Asmundson et al., 2002; Liedl et al., 2011).
Zum Beispiel konnten Martin et al. (2010) zeigen, dass die Angstsensitivität sowie traumatische Symptome einen Einfluss auf die schmerzbezogene Lebensbeeinträchtigung im Verlauf nach einer Operation hatten. Die Angstsensitivität beschreibt dabei eine prämorbide maladaptive Interozeption, in deren Rahmen körperliche Signale als bedrohlich wahrgenommen werden. Dabei wird angenommen, dass eine erhöhte Angstsensitivität für sich genommen keine Störung darstellt.
Der Einfluss der Angstsensitivität bei chronisch schmerzkranken oder traumatisierten Kindern ist noch unzureichend untersucht. Allerdings konnten Kilic et al. (2008) zeigen, dass eine erhöhte Angstsensitivität auch bei Kindern mit einem erhöhten PTBS-Symptom-Score einhergeht. In Bezug auf Kinder mit chronischen Schmerzen gibt es mittlerweile mehrere Studien, welche die Hypothese untermauern, dass bei Kindern eine erhöhte Angstsensitivität sowohl mit einer erhöhten schmerzbezogenen Lebensbeeinträchtigung als auch mit affektiven Störungen assoziiert ist (z. B. Martin et al., 2007).
Parallel zu der Forschung in der Therapie von Panikstörungen unterstützt eine Studie (bei Erwachsenen) die Vermutung, dass ausgehend von einer erhöhten Angst sensivität interozeptive Konditionierungsprozesse für diese Zusammenhänge mitverantwortlich sind (De Peuter et al. 2011). Derartige interozeptive Konditionierungsprozesse könnten eine Erklärung dafür sein, weswegen schmerzhafte Unfälle im Kindes- und Jugendalter im Verlauf nach Abklingen der akuten Schädigung mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung z. B. einer affektiven Störung einhergehen können (Zatzick & Grossman, 2008).
In Übereinstimmung mit der bisherigen wissenschaftlichen Literatur zeigt auch die klinische Erfahrung, dass bei vielen schmerzkranken Kindern mit chronischen therapieresistenten Verläufen belastende oder traumatisierende Lebenserfahrungen eine gewichtige Rolle bei der Entstehung oder Aufrechterhaltung der Schmerzsymptomatik haben. So können in der klinischen Praxis, z. B. bei chronischen therapieresistenten Schmerzen nach Sport- oder Verkehrsunfällen, Verarbeitungsmuster beobachtet werden, welche in mindestens einem Aspekt (z. B. Übererregung mit hoher körperlicher Anspannung, erhebliche Konzentrationsprobleme, ausgeprägtes Vermeidungsverhalten) an eine Traumatisierung erinnern.
Wie sehr sich dies im Alltag der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirken kann, sollen die folgenden Beispiele von Jugendlichen verdeutlichen, welche sowohl an einer Schmerzstörung als auch einer Anpassungsstörung, posttraumatischen Belastungsstörung oder unspezifischen Traumafolgestörung litten und sich deswegen zur stationären Schmerztherapie vorstellten:
(1) Justin (17 Jahre, chronische Rückenschmerzen) hatte nach einem schweren Badeunfall mit infolgedessen inkompletter Querschnittslähmung sowie einer sich anschließenden sehr schmerzhaften Operation chronische Rückenschmerzen entwickelt. Allein der Gedanke oder die Erinnerung an die Operation (interessanterweise nicht der Unfall an sich) verstärkte die Schmerzwahrnehmung innerhalb von wenigen Sekunden um 2 Punkte (auf einer Numerischen Rating Skala (NRS) von 0 – 10) und führte zu erheblichen vegetativen Begleitsymptomen sowie Konzentrationsproblemen.
(2) Judith (16 Jahre, CRPS Typ I, linker Fuß) gab an, dass sie bei längerer schmerzhafter Belastung des linken Fußes sehr erschöpft sei, dann plötzlich sehr traurig und etwas hoffnungslos werde, was mit hoher Wahrscheinlichkeit Intrusionen an einen als traumatisch erlebten sexuellen Übergriff vor drei Jahren auslöse.
(3) Mohamed (14 Jahre, chronische Kopfschmerzen nach einem Verkehrsunfall) berichtete, dass bestimmte Situationen im Straßenverkehr automatisch starke Kopfschmerzen auslösten, während umgekehrt starke Kopfschmerzen Erinnerungen an den Verkehrsunfall triggerten.
(4) Patricia (14 Jahre, chronische Rückenschmerzen) litt bei stärkeren Rückenschmerzen, z. B. nach körperlicher Belastung, an emotional stark belastenden Erinnerungen aus ihrer Kindheit (z. B. als der alkoholisierte Vater sie im Rahmen eines Wutanfalls so gegen eine Wand stieß, dass sie am ganzen Rücken Schmerzen hatte).
Eine getrennte Betrachtung und Behandlung der emotional belastenden Erinnerungen und der Schmerzstörung ergäbe in den beschriebenen Fällen unabhängig von deren eventuellen ursächlichen Kopplung (z. B. Verkehrsunfall) keinen Sinn. Zudem berichteten die betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass sie bei einer vermehrten aktiven Schmerzbewältigung (z. B. in vivo-Konfrontationsverfahren basierend auf dem Fearavoidance- Modell nach Vlaeyen und Litnon, 2000), vermutlich aufgrund der interozeptiven Konditionierungsprozesse, unter einer deutlich erhöhten emotionalen Belastung infolge von verstärkten Erinnerungen zu leiden hatten.
Problematisch scheint für eine erfolgreiche Therapie also auch der Umstand zu sein, dass die bis - lang passive Schmerzbewältigung für die betroffenen Kinder immer auch eine Problemlösestrategie im Umgang mit belastenden Erinnerungen dargestellt hat (Dobe et al., 2009) und die eigentlich angezeigte aktive Schmerzbewältigung ihnen nun eine bislang wirksame Problemlösestrategie nehmen würde, was wiederum zu einer weiteren emotionalen Belastung führt.
Dass dies nicht nur auf ein Motivationsproblem zurückgeführt werden kann, zeigt (allerdings bei Erwachsenen) ein Experiment von Wald & Taylor (2008), bei welchem traumatisierte Erwachsene verschiedene körperliche Aktivitäten ausführten. Je nach Grad der damit einhergehenden physiologischen Aktivierung berichteten bis zu über 60 % der Teilnehmer, dass die körperlichen Übungen Flashbacks auslösten. Traumaspezifische Verfahren, welche sich zu Beginn der Therapie auf eine Verringerung der emotionalen und intrusiven Belastung beschränken, vernachlässigen zu Beginn der Therapie die medizinisch angezeigte vermehrte aktive Schmerzbewältigung.
Auf Basis der dargestellten wissenschaftlichen Literatur und klinischen Erfahrungen könnte eine Lösung in einem kombinierten Vorgehen liegen, welches sowohl über eine interozeptive Reizexposition eine Verringerung der Angstsensitivität und damit der interozeptiven Konditionierung anstrebt als auch parallel zu einer vermehrten aktiven Schmerzbewältigung anleitet.
Tatsächlich gibt es für traumatisierte Erwachsene mit chronischen Schmerzen mittlerweile therapeutische Ansätze, welche traumatherapeutische Methoden und die Konfrontation mit interozeptiven Reizen verbinden. So konnten sowohl Wald et al. (2010) in einer Fallstudie als auch Liedl et al. (2011) im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Studie am Zentrum für Folteropfer in Berlin zeigen, dass die Hinzunahme von körperlichen Übungen, welche zu einer vermehrten Wahrnehmung interozeptiver Signale führten, gegenüber dem Standard-Treatment zu verbesserten Erfolgen in der Behandlung der PTBS führte.
Studien, die überprüfen, inwiefern dieser Ansatz auf primär schmerzkranke Kinder übertragen werden kann, welche zusätzlich unter belastenden oder traumatisierenden Erinnerungen leiden, existieren bis dato nicht. Die klinische Erfahrung zeigt aber, dass die meisten der betroffenen Kinder sowohl unter Ruhebedingungen als auch unter normaler körperlicher Belastung (für viele betroffene Kinder ist schon der normale Tagesablauf eine Herausforderung) Schmerzen und somit belasten de Erinnerungen vermehrt er leben. Nichtsdestotrotz zeigen die Ansätze von Wald et al. (2010) und Liedl et al. (2011) die Notwendigkeit kombinierter Ansätze in der komorbiden Behandlung von Trauma- und Schmerzstörungen, vermutlich auch für Kinder und Jugendliche.
Einen anderen Weg der interozeptiven Exposition schlagen Verfahren zur Behandlung von Panikstörungen ein (De Peuter et al., 2011). Auch bei der Entwicklung einer Panikstörung spielt die als bedrohlich erlebte Wahrnehmung interozeptiver Reize (z. B. Herzschlag) eine entscheiden de Rolle, so dass die Entwicklung von interozeptiven Expositionsverfahren nahe liegend war. Anders als bei den oben angeführten Studien spielt dabei aber auch die interozeptive Exposition durch Aufmerksamkeitsfokussierung unter Ruhebedingungen eine wichtige Rolle (wie z. B. die Wahrnehmung des Herzschlags unter Ruhebedingung).
In Analogie dazu würde das für die Schmerzbehandlung bedeuten, dass die Fokussierung auf die Schmerzwahrnehmung selbst (wie z. B. auf einen Druckschmerz im Kopf oder im Bauchbereich) über die interozeptive Konditionierung zu einer verstärkten Schmerzwahrnehmung führen müsste. Tatsächlich wurde dies im Rahmen eines casereports (Dobe et al., 2009) von einem Jugendlichen berichtet. Zudem konnten in einer aktuellen Studie auch bei Erwachsenen Belege für die Hypothese gefunden werden. (Craske et al., 2011).
Fasst man die bisherigen Studien zusammen, könnte auch für Kinder vermutet werden (was von betroffenen Kindern übereinstimmend dazu auch berichtet wird), dass es über interozeptive Konditionierungen zu einer gegenseitigen Aufrechterhaltung und Verstärkung einerseits der Wahrnehmung starker Schmerzen und andererseits der Erinnerung an belastende oder traumatisierende Lebensereignisse kommt.
Basierend auf diesen Annahmen wurde am Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln die Schmerzprovokation als eine Variante der interozeptiven Exposition entwickelt (Dobe et al., 2009). Im Folgenden soll die Methode vorgestellt werden, um im Anschluss auf eine erste Studie einzugehen, welche den zusätzlichen Benefit dieser Methode in der stationären Schmerztherapie untersucht hat.
Der Ablauf der Schmerzprovokation selbst ist wie folgt: Das Kind konzentriert sich (meist mit geschlossenen Augen) zum einen auf die Stelle des Körpers, die aktuell (oder bei chronisch rezidivierenden Schmerzen: normalerweise) am meisten schmerzt und denkt zum anderen parallel dazu an (mit den Schmerzen in Verbindung stehende) belastende Erinnerungen (z. B. schmerzhafte Bewegungen, Verkehrsunfall oder Gedanken an bestimmte Ereignisse, die im Erleben des Kindes mit einem hohen Stresspegel und somit starken Schmerzen verknüpft sind, z. B. Streit, Klassenarbeit, Trennung der Eltern, Tod der Großmutter). Manchen Kindern reicht es, sich nur auf die Schmerzen zu konzentrieren, manche Kinder brauchen nur an bestimmte negative (mit dem Schmerz assoziierte) Erinnerungen zu denken, um den Schmerz auszulösen.
Wiederum andere Kinder konzentrieren sich sowohl auf ihre Schmerzen als auch auf belastende Erinnerungen. Dem Kind sollten diesbezüglich keine Vorgaben gemacht werden. Wenn das Kind seine Schmerzen um einen Punkt (0 – 10 auf der NRS) gesteigert hat, sagt es deutlich hörbar »Stopp!« (zum einen, damit der Therapeut eine Rückmeldung erhält, da die Schmerzen an sich ja nicht sichtbar sind, und zum anderen, damit ein Gedanken- Stopp implizit eingeführt wird). Direkt im Anschluss wird eine gelernte Schmerzbewältigungstechnik (z. B. Ablenkungs-ABC oder sicherer Ort – siehe Dobe und Zernikow [2013] für eine ausführliche Übersicht) so lange durchgeführt, bis die Schmerzstärke wieder um einen Punkt (0 – 10 auf der numerischen Rating-Skala) gesunken ist. Das Kind beendet dann die Technik, indem es wiederum deutlich hörbar "Stopp!" sagt.
(1) Die Technik der Schmerzprovokation sollte dem Kind frühestens dann beigebracht werden, wenn es in seiner Eigenwahrnehmung mindestens mit einer Strategie seine Schmerzen zuverlässig um einen Punkt senken kann (besser ist es, wenn das Kind zwei als hilfreich bewertete Techniken beherrscht).
(2) Vorher wird ein Stopp- oder Hilfe-Signal vereinbart, mit Hilfe dessen das Kind anzeigt, dass es die Übung unterbrechen möchte, weil es entweder alleine die Schmerzen nicht steigern oder senken kann.
(3) Für diesen Fall sollte im Vorhinein besprochen werden, was dann zu tun ist. Normalerweise wird einerseits besprochen, dass der Therapeut bei der Aufmerksamkeitsfokussierung behilflich ist, indem er das Kind mit affektiv gefärbten Worten (z. B. "Erinnere dich, wie schrecklich deine Schmerzen in/ bei [Situation einfügen] waren.") bei der Schmerzfokussierung und -erinnerung unterstützt. Dieses Problem ist äußerst selten und kommt meist bei Kindern vor, die nur selten unter Schmerzen leiden. Andererseits sollte aber auch im Vorhinein besprochen werden, was der Therapeut machen sollte oder darf, wenn der für das Kind befürchtete Fall eintritt, dass es alleine die Schmerzen nicht wieder reduzieren kann. Wir empfehlen in so einem Fall, mit dem Kind zusammen eine dem Kind bekannte Ablenkungsstrategie durchzuführen und parallel dazu immer wieder mit viel Humor den Realitätsbezug zu Dingen in der Umgebung herzustellen (z. B. fragen: "Wie viele Dinge mit 'A' kannst du in diesem Raum entdecken?").
(4) Schließlich sollte das Kind vor der ersten Durchführung der Technik noch bestimmen, was genau der Therapeut in der Zwischenzeit eigentlich machen soll. Manchen Kindern ist es wichtig, dass der Therapeut sie beobachtet, um notfalls schnell reagieren zu können (dies ist vor allem bei traumatisierten Kindern ein besonderer Wunsch). Häufiger wünschen sich die Kinder, dass der Therapeut sich entweder anderweitig im Raum beschäftigt oder selber die Augen schließt (um zum Beispiel selbst die gleiche Technik anzuwenden).
Den bisherigen Erfahrungen nach zu urteilen, sollte diese Methode nicht bei Kindern angewendet werden, welche unter einer komorbiden Essstörung vom Typ Anorexia Nervosa leiden, da die damit einhergehende sehr erhöhte Körperselbstaufmerksamkeit zwar leicht eine Schmerzsteigerung, aber nur sehr schwer die sich anschließende Schmerzreduzierung ermöglicht. Generell ist von dem Einsatz der Methode bei einer floriden Psychose abzuraten, da die Methode dem anwendenden Kind eine gewisse Organisationsfähigkeit und Planung der eigenen Handlungen abverlangt. Aus ähnlichen Gründen ist der Einsatz der Methode bei schmerzkranken Kindern mit zusätzlich schwerer depressiver Episode vermutlich nicht sinnvoll.
Zudem ist zu einem sehr dosierten und vorsichtigen Einsatz bei Kindern zu raten, welche ausgeprägte dissoziative Symptome zeigen oder unter den Folgen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Der Einsatz der Schmerzprovokation sollte erst dann in Frage kommen, wenn die betroffenen Kinder dem behandelnden Therapeuten glaubhaft vermitteln können, dass sie die erlernten Strategien nach einer Schmerzsteigerung auch tatsächlich anwenden werden.
Die Kinder benötigen für die erstmalige Durchführung der Technik selten vier oder fünf Minuten, meist geht es deutlich schneller (< 1 Minute). Nach der Durchführung werden die Kinder danach gefragt, wie genau sie den Schmerz um einen Punkt gesteigert haben, ob beim "Stopp!" die Schmerzen noch weiter stiegen oder der Schmerzanstieg gestoppt werden konnte und wie sie anschließend den Schmerz wieder auf den Ausgangswert bringen konnten.
Anschließend werden die Kinder gebeten, die Übung noch einmal zu wiederholen, einerseits um einen theoretischen Zufallseffekt auszuschließen, andererseits um den Kindern Gelegenheit für alternative Vorgehensweisen zu geben. Dann werden die gleichen Fragen (s. o.) wiederholt. Im Anschluss darf das Kind entscheiden, wie häufig es die Übung noch im Beisein des Therapeuten wiederholen möchte, bis es sich zutraut, die Übung alleine als Hausaufgabe durchzuführen (normalerweise reichen insgesamt zwei bis drei Durchgänge).
Die Kinder sind zwar von den neuen Möglichkeiten, die sie vorher kaum glauben konnten, fasziniert, dennoch wird die Übung von den Kindern als anstrengend beschrieben. Ein meist guter Kompromiss zwischen Übung und Anstrengung ist die drei- bis viermalige Durchführung pro Tag als Hausaufgabe. Wenn die Übung auch alleine gut umgesetzt werden kann, ist der nächste Schritt, die Schmerzen um zwei Punkte zu steigern, um sie dann wieder um zwei Punkte zu senken. Im Anschluss führen wir in der Regel noch folgende Schritte durch: +2/–3 und +2/–4. Meist besteht nach dem Erlernen der Schmerzprovokation kein weiterer Klärungsbedarf bezüglich biopsychosozialer Zusammenhänge. Dementsprechend hoch ist dann die weitere Therapiemotivation.
Entwickelt wurde die Methode in den Jahren 2002 bis 2003 im Rahmen einer stationären Kinderschmerztherapie, um die Symptome von Kindern, welche sowohl an Schmerzstörungen als auch an den Folgen belastender Erinnerungen leiden, besser parallel behandeln zu können. Viele Kinder berichteten nach dem Erlernen der Methode von einer deutlich verringerten Assoziation zwischen ihrer Schmerzwahrnehmung sowie belastenden Erinnerungen und bewerteten die Methode trotz ihrer anfangs großen Angst vor der Durchführung als sehr positiv.
Ermutigt durch diese vielen positiven Rückmeldungen betroffener Kinder (ein Fallbericht mit einem 12-Monats-Verlauf ist 2009 veröffentlicht worden: Dobe et al., 2009), wurde eine Matched-casecontrol- Studie mit zwei Gruppen von je 40 Kindern und Jugendlichen (nach Alter und Geschlecht gematched) durchgeführt, welche sich in den Jahren 2004 bis 2006 zur Durchführung einer stationären Schmerztherapie entschieden (Hechler et al., 2010).
Zwischen den beiden Gruppen mit je 40 Kindern gab es keine Unterschiede hinsichtlich z. B. Alter (14 Jahre), Schmerzstärke (Dauerschmerz von durchschnittlich 7 bzw. 6,5 auf einer Numerischen Rating Skala von 0 – 10), Schulfehltagen (zehn bzw. zwölf schmerzbezogene Schulfehltage unter den letzten 20 Schulfehltagen) und Stärke der emotionalen Beeinträchtigung (je Gruppe gaben zwischen 40 bis 50 % der Kinder mindestens einen erhöhten Wert in einem Angst- oder Depressionsfragebogen an). Es wurden nur Kinder eingeschlossen, die bei Entlassung als primäre Diagnose unabhängig von weiteren komorbiden psychischen Diagnosen eine Schmerzstörung (F45.40, F45.41, F45.31 oder F45.32) hatten.
Bereits das stationäre Standard-Treatment zeigt sich bei Kindern mit diesen Schmerzstörungen unabhängig von der psychologischen Komorbidität und unabhängig vom Geschlecht und Alter in bisherigen Studien sowohl statistisch als auch klinisch signifikant und langfristig erfolgreich (z. B. Dobe et al., 2006; Hechler et al., 2009; Hechler et al., 2010; Dobe et al., 2011). Kinder, welche zusätzlich die Technik der Schmerzprovokation erlernten, konnten drei Monate nach Entlassung ihre durchschnittliche Schmerzstärke von 7,2 auf 1,6 (NRS 0 – 10) reduzieren. Kinder, welche das Standard-Treatment erhielten, konnten hingegen die durchschnittliche Schmerzstärke nach drei Monaten nur von 6,5 auf 2,6 (NRS 0 – 10) reduzieren (p=0,013; F(1,75)=6,52).
Anders ausgedrückt gaben 80 % der Kinder, welche die Technik der Schmerzprovokation erlernt hatten, drei Monate nach Beendigung der stationären Schmerztherapie eine mindestens 50 %ige Schmerzreduktion an gegenüber 66 % der Kinder in der Standard-Treatment-Gruppe. Bis auf einen zusätzlichen Vorsprung bei der Verringerung der Schulunlust (p=0,047; F(1,57)=4,13) zeigten sich ansonsten keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen nach 3 Monaten.
Leider konnten dabei keine Effekte gesondert für Kinder mit einer komorbiden posttraumatischen Belastungsstörung, einer unspezifischen Traumafolgestörung oder einer Anpassungsstörung berechnet werden, da deren Stichprobenanzahl im Verhältnis zur Gesamtgruppe zu klein war (ca. 20 %).
Summary
Children and adolescents suffering from pain disorders are often also seriously affected by fears caused by distressing or traumatic events in their lives. An increasing number of studies substantiate the hypothesis that anxiety sensitivity is a major factor operative in the mutually interoceptive conditioning between pain and trauma symptoms. Interoceptive exposure designed to reduce anxiety is accordingly felt to be a promising approach in the treatment of children and adolescents suffering both from a pain disorder and trauma symptoms.
At present, the pain provocation technique is the only type of interoceptive exposure that has been described in connection with the treatment of children and adolescents suffering both from pain disorders and trauma symptoms. Findings from a matched-case-control study are promising, although it displays a number of methodological limitations.
Keywords
children, pain disorder, interoceptive exposure, trauma, pain provocation technique
Dr. rer. medic. Michael Dobe,
Dipl.-Psych., ist Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeut
sowie Trauma- und Familientherapeut
am Deutschen Kinderschmerzzentrum an der Vestischen
Kinder- und Jugendklinik in Datteln.
Neben seiner klinischen
Tätigkeit ist er mitverantwortlich
für die Evaluation und Weiterentwicklung
der stationären Behandlung
von Kindern und Jugendlichen
mit Schmerzstörungen. Für
seine Publikationen im Bereich
der stationären Kinderschmerztherapie
wurde er 2006 und für die
Entwicklung der Schmerzprovokation
2010 wissenschaftlich ausgezeichnet.
Michael Dobe ist Referent am
Institut für Traumatherapie in
Berlin zum Thema "Wenn Körper und Seele schmerzen..." - Kombinierte Trauma- und Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen:
Flyer mit weiteren Informationen zum Seminar am 27. und 28. April 2013.
Dr. rer. medic. Dipl.-Psych.
Michael Dobe
Deutsches Kinderschmerzzentrum
Vestische Kinder- und Jugendklinik
Datteln
Universität Witten/Herdecke
Dr.-Friedrich-Steiner-Str. 5
45711 Datteln
M.Dobe@kinderklinik-datteln.de
Asmundson, G. J. G., Coons, M. J., Taylor, S., & Katz, J. (2002). PTSD and the experience of pain: Research and clinical implications of shared vulnerability and mutual maintenance models. Canadian Journal of Psychiatry, 47, 930 – 937.
Craske, M. G., Wolitzky-Taylor, K. B., Labus, J., Wu, S., Frese, M., Mayer, E.A. & Naliboff, B.D. (2011). A cognitive-behavioral treatment for irritable bowel syndrome using interoceptive exposure to visceral sensations. Behaviour Research and Therapy, 49, 413 – 421.
De Peuter, S., Van Diest, I., Vansteenwegen, D., Van den Bergh, O. & Vlaeyen, J. W. (2011). Understanding fear of pain in chronic pain: interoceptive fear conditioning as a novel approach. European Journal of Pain, 15, 889 – 894.
Dobe, M., Hechler, T. & Zernikow, B. (2009). The pain provocation technique as an adjunctive treatment module for inpatient pain treatment for children and adolescents with chronic pain: a case report. Journal of Child & Adolescent Trauma, 2, 297 – 307.
Dobe, M., Hechler, T., Behlert, J., Kosfelder, J. & Zernikow B. (2011). Chronisch schmerzkranke, schwer beeinträchtigte Kindern und Jugendlichen: Langzeiterfolge einer dreiwöchigen stationären Schmerztherapie. Schmerz, 25, 411 – 422.
Dobe, M. & Zernikow, B. (inpress). Therapie von Schmerzstörungen im Kindes- und Jugendalter. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg. Hechler, T., Dobe, M., Kosfelder, J., Damschen, U., Hübner, B., Blankenburg, M. et al. (2009).
Effectiveness of a three-week multimodal inpatient pain treatment for children and adolescents suffering from chronic pain: Statistical and clinical significance. Clinical Journal of Pain, 25, 156 – 166.
Hechler, T., Dobe, M., Damschen, U., Schroeder, S., Kosfelder, J. & Zernikow, B. (2010). The pain provocation technique for adolescents with chronic pain: Preliminary evidence for its effectiveness. Pain Medicine, 11(6), 897 – 910.
Jakupcak, M., Osborne, T., Michael, S., Cook, J., Albrizio, P. & McFall, M. (2006). Anxiety sensitivity and depression: mechanisms for understanding somatic complaints in veterans with posttraumatic stress disorder. Journal of Traumatic Stress, 19, 471 – 479.
Katz, J., Asmundson, G. J., McRae, K. & Halket, E. (2009). Emotional numbing and pain intensity predict the development of pain disability up to one year after lateral thoracotomy. European Journal of Pain, 13, 870 – 878.
Kiliç, E. Z., Kiliç, C. & Yilmaz, S. (2008). Is anxiety sensitivity a predictor of PTSD in children and adolescents? Journal of Psychosomatic Research, 65, 81 – 86.
Liedl, A., Müller, J., Morina, N., Karl, A., Denke, C. & Knaevelsrud, C. (2011). Physical activity within a CBT intervention improves coping with pain in traumatized refugees: results of a randomized controlled design. Pain Medicine, 12, 234 – 245.
Martin, A. L., McGrath, P. A., Brown, S. C. & Katz, J. (2007). Anxiety sensitivity, fear of pain and pain-related disability in children and adolescents with chronic pain. Pain Research & Management, 12, 267 – 272.
Martin, A.L., Halket, E., Asmundson, G.J., Flora, D. B. & Katz, J. (2010). Posttraumatic stress symptoms and the diathesis-stress model of chronic pain and disability in patients undergoing major surgery. Clinical Journal of Pain, 26, 518 – 527.
Olsen, D.R., Montgomery, E., Bojholm, S. & Foldspang, S. (2007). Prevalence of pain in the head, back and feet in refugees previously exposed to torture: a ten-year followup study. Disability and Rehabilitation, 29, 163 – 171.
Sansone, R.A., Pole, M., Dakroub, H. & Butler, M. (2006). Childhood trauma, borderline personality symptomatology, and psychophysiological and pain disorders in adulthood. Psychosomatics, 47, 158 – 162.
Seng JS, Graham-Bermann SA, Clark MK, Mc- Carthy AM, Ronis DL. (2005). Posttraumatic stress disorder and physical comorbidity among female children and adolescents: results from service-use data. Pediatrics, 116, 767 – 776.
Vlaeyen, J. W., Linton & S. J. (2000). Fear-avoidance and its consequences in chronic muskuloskeletal pain: A state of art. Pain, 85, 317 – 332.
Wald, J. & Taylor, S. (2008). Responses to interoceptive exposure in people with posttraumatic stress disorder (PTSD): a preliminary analysis of induced anxiety reactions and trauma memories and their relationship to anxiety sensitivity and PTSD symptom severity. Cognitive Behaviour Therapy, 37, 90 – 100.
Wald, J., Taylor, S., Chiri, L. R. & Sica, C. (2010). Posttraumatic stress disorder and chronic pain arising from motor vehicle accidents: efficacy of interoceptive exposure plus trauma-related exposure therapy. Cognitive Behaviour Therapy, 39, 104 – 113.
Young Casey, C., Greenberg, M.A., Nicassio, P. M., Harpin, R. E. & Hubbard, D. (2007). Transition from acute to chronic pain and disability: A model including cognitive, affective, and trauma factors. Pain, 134, 69 – 79.
Zatzick, D. F. & Grossman, D. C. (2008). Association between traumatic injury and psychiatric disorders and medication prescription to youths aged 10 – 19. Psychiatric Services, 62, 264 – 271.