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Tomris Grisard

Notwendigkeit und Möglichkeit einer Psychotraumabehandlung bei Menschen im höheren Lebensalter

Ein Pilotprojekt

auch erschienen in: Trauma & Gewalt 1 (2012), S. 72-77

Zusammenfassung

Die psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen scheint in Deutschland noch nicht ausreichend; vielmehr ist ein Versorgungsnotstand gegeben. Erfahrungen aus der Praxis machen die Notwendigkeit einer spezifischen Traumatherapie für diese Altersgruppe deutlich. Das körperliche Altern wie z. B. die eingeschränkte Mobilität, das Nachlassen der Sinne, Krankheiten und Schmerzen sowie der Abschied von Menschen kann im Einzelfall ein Gefühl des Ausgeliefertseins auslösen und zu einer Traumareaktivierung führen. Hier greift ein Kurzzeittherapiekonzept, das Elemente von EMDR und Brainspotting mit einer Lebensrückblickintervention verbindet.

Da diese Altersgruppe kaum Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten hat, wird es ein Behandlungsangebot vor Ort in einem Seniorenzentrum in Köln geben mit dem Titel »Altlasten über Bord werfen«. Es handelt sich um ein Pilotprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird.

Schlüsselbegriffe Psychotraumabehandlung, Menschen im höheren Lebensalter, Traumareaktivierung, EMDR, Brainspotting, Lebensrückblickintervention

Einleitung

Ist denn Psychotherapie im Alter sinnvoll? Lässt sich da überhaupt noch etwas verändern? Zum Glück werden diese Fragen inzwischen nicht mehr gestellt. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Studien belegen, dass eine individuelle, auf das Alter abgestimmte Psychotherapie durchaus positive Effekte haben kann.

Von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e. V. BAGSO wurde kürzlich in Zusammenarbeit mit der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung e. V. eine Broschüre herausgegeben, die Senioren ermutigt, bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Wenn die Seele krank ist - PSYCHOTHERAPIE im höheren Lebensalter«.

Tatsächlich werden in ambulanten psychotherapeutischen Praxen kaum Klienten behandelt, die über 70 Jahre alt sind. Der Anteil der weiblichen Klienten in der Altersgruppe 71 - 80 Jahre beträgt nur noch 1,4 % (laut einer aktuellen Befragung der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung).

Noch ältere Jahrgänge werden quasi nicht mehr psychotherapeutisch behandelt. Das hat verschiedene Gründe: Neben der unzureichenden Diagnosestellung durch Hausärzte, sind die Betroffenen dieser Generation auch kaum in der Lage, sich psychotherapeutische Hilfe selbst zu suchen.

Psychisch krank zu sein hat zudem immer noch etwas Stigmatisierendes. Es gibt große Vorbehalte, aber auch pragmatische Gründe, wie z. B. Immobilität und Unwissenheit über die Abläufe, die eine ambulante Therapie erschweren.

Es ist davon auszugehen, dass die folgenden Generationen eine positivere Haltung gegenüber der Psychotherapie entwickeln werden, da die gesellschaftliche Akzeptanz inzwischen sehr gestiegen ist.

Beispiele aus der Praxis

Auch in meiner psychotherapeutischen Praxis stellten sich eher selten KlientInnen der Altersgruppe 70 + vor. Zufällig kam es allerdings in den letzten 2 Jahren zu einer gehäuften Anfrage älterer Frauen, die ich psychotherapeutisch betreuen konnte.

Was diese Klientinnen vereinte, waren unverarbeitete Traumaerfahrungen in der Biographie. Es war sehr beeindruckend zu sehen, wie lebhaft die belastenden Erinnerungsbilder noch nach Jahrzehnten wahrgenommen wurden.

Eine 72-jährige Klientin mit depressiven Symptomen wurde durch die aktuelle, winterliche Schneelandschaft getriggert, und sie erinnerte sich detailliert an die Flucht im Winter 1945. Sie war damals 7 Jahre alt und dem Schrecken und der Angst hilflos ausgeliefert. Das gleiche Gefühl überkam sie beim Anblick der Schneemassen in diesem Winter.

Gerade im Alter können belastende Erfahrungen und Erlebnisse, die jahrelang verborgen waren, wieder an die Oberfläche kommen. Eine 97-jährige alte Dame erzählte mir ihre Lebensgeschichte, die durch viele traumatische Ereignisse geprägt war. Geboren 1911, erlebte sie den 1. und 2. Weltkrieg mit all seinem Leid und Schrecken. Sie beklagte den Tod naher Angehöriger, sie wurde ausgebombt, evakuiert und flüchtete im kalten Winter 1945 mit 4 kleinen Kindern vom Osten in den Westen Deutschlands. Jahrzehntelang bewältigte sie ihr Leben.

Erst im sehr hohen Lebensalter holten sie die Erinnerungen wieder ein. Das Einsetzen eines Blasenkatheters im Krankenhaus löste bei ihr massive Nachhallerinnerungen an Missbrauchserfahrungen im Jugendalter aus. Leider wurde ihr Verhalten im Krankenhaus als Psychose missgedeutet und eine neuroleptische Behandlung angeordnet. In intensiven Gesprächen gelang es, diese Zusammenhänge aufzudecken und Entlastung zu schaffen. Aber von einer traumatischen Kränkung konnte sie sich bis zum Schluss nicht distanzieren.

Es war eine Aussage ihrer Mutter kurz nach dem Tod ihres geliebten kleinen Bruders Hans. Die alte Dame war damals 7 Jahre alt und hörte ihre Mutter, vermutlich in einem Zustand der Verzweiflung, klagen: »Ach, wärst du doch gestorben anstelle des kleinen Hans«. Diese Aussage löste bei ihr die negative Kognition aus: »Ich bin wertlos und nicht liebenswert« und hielt sich in diesem Fall 90 Jahre lang.

Traumatisch abgespeicherte Informationen müssen mit gezielten traumatherapeutischen Methoden behandelt werden. In Deutschland ist offenbar besonders die ältere Generation gefährdet, PTBS-Symptome zu entwickeln, und leider bleiben diese häufig unerkannt.

Aus einer repräsentativen Studie zum Thema PTBS-Rate bei älteren Menschen in Deutschland vom Mai 2008, durchgeführt von Prof. Andreas Maercker (Universität Zürich) und Prof. Elmar Brähler (Universität Leipzig), geht hervor, dass die 1-Monats- Prävalenz des PTBS-Vollbilds über die Altersgruppen von 1,31 % auf 3,44 % signifikant zunimmt.

Dieses Resultat stellt einen auffallenden Unterschied zu Untersuchungsergebnissen aus anderen Ländern dar. In den Studien aus den USA, Australien, Kanada und Mexiko sei die PTBS-Rate gerade bei der älteren Generation besonders wenig verbreitet gewesen. Sie zeigten meist die niedrigsten PTBS-Häufigkeiten.

In der deutschen Studie haben die einbezogenen älteren Menschen, die von PTBS betroffen waren, fast alle von traumatischen Kriegserlebnissen wie Ausbombung, Vertreibung, Kriegs einsätzen oder Gefangenschaft berichtet. Aber auch über zivile Traumata wie Missbrauch, Unfälle, Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen wird in dieser Altersklasse häufiger berichtet.

Dieses Ergebnis wird als wichtige Erkenntnis für die Behandlung von älteren Menschen mit z. B. Depressionen, Schlaf- oder Angststörungen angesehen. In Deutschland wurde das im 2. Weltkrieg Geschehene bislang tabuisiert. Viele Jahre lang konnten Betroffene der Kriegs- bzw. Kriegskindergeneration nicht über ihre Erfahrungen sprechen und sie verarbeiten.

In den letzten Jahren hat sich diese Haltung stark verändert. In den Publikationen von Sabine Bode »Die vergessene Generation« und »Kriegsenkel« oder in den Veröffentlichungen von Hartmut Radebold, wie z. B. »Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit«, bekommen Betroffene endlich eine Stimme, und es hat eine wissenschaftliche Auseinandersetzung begonnen.

Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass nach wie vor viele ältere Menschen immer noch psychisch an den Folgen des 2. Weltkrieges leiden. Dies zeigt sich z. B. in Schlafstörungen, Alpträumen und unmotiviertem Erschrecken, in Konzentrationsstörungen und Angststörungen.

Warum können erlebte Traumata im Alter wieder reaktiviert werden?

Vielen Menschen gelingt es, ein Leben lang mehr oder weniger funktionstüchtig zu bleiben und das Trauma zu verdrängen. Das körperliche Altern kann ein Gefühl des Ausgeliefertseins bewirken und eine Traumareaktivierung hervorrufen. Die Sinne wie das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen verändern sich und führen zu Unsicherheiten. Die Mobilität ist eingeschränkt und lebensbedrohliche Krankheiten und Schmerzen häufen sich im Alter und verstärken das Gefühl der Hilflosigkeit. Der Abschied von Freunden, Bekannten, Partnern oder auch den eigenen Kindern ist sehr belastend. Es können sich traumatische Trauerreaktionen entwickeln. Aber auch Trigger durch Medien (die Berichterstattung über Kriegseinsätze und terroristische Anschläge, Dokumentationen über den Krieg, Verfilmungen, z. B. »Die Flucht«) spielen zunehmend eine Rolle und können Auslöser für eine Reaktivierung sein.

Ein Beispiel aus meiner Praxis illustriert, wie im Alter Unsicherheit eine Traumareaktivierung auslösen kann. Eine 73-jährige Klientin berichtete nach einem eher harmlosen Sturz, dass sie seitdem völlig aufgelöst und erschüttert sei. Sie müsse ständig weinen und könne über das Geschehene nicht sprechen, ohne zu zittern.

Was war geschehen? Die ältere Frau wurde von einem jungen Mann auf der Straße angerempelt und fiel auf den Boden. Sofort bekam sie Hilfe, wurde freundlich behandelt und der Mann entschuldigte sich ausführlich. Dennoch blieb diese Erfahrung für die Frau sehr belastend.

In der fokussierten Bearbeitung mit EMDR stellte sich heraus, dass sie durch das Ereignis getriggert worden war. Bei der Formulierung der negativen Kognition (Phase 3 des EMDRStandardprotokolls) entwickelte sie den Satz »Ich liege da wie ein geprügelter Hund«. Diese Aussage entsprach eigentlich nicht der Realität. Das Liegen auf dem Boden erinnerte sie an eine Prügelszene aus ihrer Vergangenheit, betreffend den inzwischen verstorbenen Ehemann, der ihr gegenüber häufig Gewalt anwendete, wenn er betrunken war.

Nach nur einer gezielten Traumatherapie- Sitzung zu diesem Ereignis, konnte sie sich von dem Sturzereignis distanzieren und das unkontrollierte Weinen hörte auf.

Wenn man davon ausgeht, dass ältere Menschen häufiger traumatischen Situationen ausgesetzt waren und diese seltener verarbeiten konnten, muss der Bedarf an Traumatherapie in dieser Altersklasse hoch sein.

Auf einer Fachtagung in Zürich 2008 zu dem Thema »unverarbeitete Traumata bei älteren Menschen«, waren sich alle Fachleute einig, dass eine wirksame Hilfe mittels Psychotherapie erfolgreicher sei als die rein medikamentöse Behandlung. Oft seien Langzeittherapien nicht indiziert, sondern es genügen manchmal 10 - 15 Sitzungen, um die Betroffenen wieder in einen gesteuerten Selbstheilungsprozess zu entlassen. Die Mehrzahl der älteren Menschen verfügen über erstaunliche Ressourcen und Fähigkeiten. Sie haben Anpassungs- und Kompensationsleistungen im Laufe ihres Lebens entwickelt. Diese gilt es zu stärken und wieder zu beleben.

Ein altersgerechtes Kurzzeittherapieangebot

Um ein altersgerechtes Angebot zu schaffen, bin ich bei meiner Recherche auf das AWO-Seniorenzentrum Theo-Burauen-Haus in Köln gestoßen. Diese Institution zeichnet sich durch ein innovatives, fortschrittliches Konzept aus. Die Einrichtung hat sich verpflichtet, nach den Grundsätzen der Charta der Rechte hilfeund pflegebedürftiger Menschen (BMFSFJ) zu arbeiten.

Nach einigen intensiven Gesprächen konnte ich das Seniorenzentrum als interessierten Kooperationspartner für mein Pilotprojekt gewinnen. Das Pilotprojekt »Altlasten über Bord werfen ...« soll BewohnerInnen der Senioreneinrichtung die Möglichkeit geben, vor Ort individuell traumatherapeutisch behandelt zu werden. Vorgesehen ist ein Kurzzeittherapiekonzept, das Elemente der effektiven Traumatherapiemethode EMDR und des relativ neuen Ansatzes Brainspotting mit einer Lebensrückblickintervention verbindet.

Nach dem Aufbau einer tragfähigen Klient-Therapeut- Beziehung, die auch durch das Seniorenzentrum unterstützt wird, besteht die Therapie aus 4 Phasen: Am Anfang steht die Erstellung einer Trauma- und. Ressourcenlandkarte als Ergebnis der Lebensrückblickintervention.

Dabei geht es um eine chronologische Darstellung der Lebensspanne mit Höhen und Tiefen. Eine sehr detaillierte Beschreibung der negativen Erinnerungsbilder ist an dieser Stelle nicht notwendig. Zur Darstellung nutze ich Bildmaterial, Fotos, Gegenstände, Symbole etc., die medial aufbereitet werden. Das bedeutet, das Material wird fotografiert und eingescannt und später chronologisch präsentiert.

Foto Grisard BSP

Foto Grisard EMDR

Brainspotting und EMDR mit einer älteren Dame

In einer zweiten Phase erfolgt eine Ressourcenaktivierung, die durch bilaterale Stimulierung (taktile oder akustische Reize, je nach Möglichkeit) verankert wird. Was hat alles gut geklappt, worauf bin ich stolz, was kann ich heute noch gut, was macht mir Freude?

Im dritten Schritt erfolgt die vorsichtige, dosierte Traumakonfrontation bei gleichzeitiger Nutzung bilateraler Stimmulierung. Die bilaterale Musik von David Grand hat sich dabei sehr bewährt. Während der gesamten Auseinandersetzung hört der Klient die sanfte rechts-links stimulierende Musik. Bei Hörproblemen ist das Halten der Hände und gleichzeitiges Tappen eine effektive Stimulierungsart, die auch gerne angenommen wird. Es gibt während des Reprozessierens zusätzlich Halt und Sicherheit. Auch beide Stimulierungsarten gleichzeitig sind denkbar.

In der letzten Phase wird eine biographische Diashow erstellt, die als Material für die weitere Durcharbeitung genutzt wird. Es geht um eine kompakte, ausgewogene Bilanzierung positiver und negativer Erinnerungen. Die traumatische Erfahrung wird in die Lebensbilanz integriert. Gemeinsam wird die individuelle Biographie in Form einer Bildershow auf dem Laptop oder dem Fernseher betrachtet und somit eine Distanzierung, ein Abschluss geschaffen.

Vor-Ort-Konzept

In meiner ambulanten Praxis hat sich diese Therapieintervention bereits bewährt. Allerdings ist die Zielgruppe 70+ selten im ambulanten Setting vertreten. So entstand die Überlegung, ein Vor-Ort-Konzept anzubieten.

Im Gespräch mit der Gerontologin und Leiterin der Tagesgestaltung, Frau Verhülsdonk, habe ich einen umfangreichen Einblick in die Versorgung und Bedarfssituation dieser potentiellen Patientengruppe erhalten. Ein Team aus Sozialarbeitern, gerontopsychiatrischen Fachkräften, Pädagogen und Betreuungsassistenten richtet das Betreuungsangebot an den individuellen Bedürfnissen der BewohnerInnen aus.

Neben der Stärkung kognitiver Ressourcen durch Gedächtnistraining, Gesprächskreise, Singen gibt es auch ein vielfältiges Angebot im Bereich der Motorik. Hierzu zählen u. a. das Fit-für-100- Programm sowie ein Kraft- und Balancetraining zur Sturzprophylaxe.

In der Arbeit mit demenziell erkrankten BewohnerInnen wird häufig das Konzept der 10-Minuten-Aktivierung genutzt. Hierfür verfügt das Zentrum über einen Fundus von ca. 50 verschiedenen Themenkisten, die z. B. Küchenutensilien, Hochzeitskisten oder Erinnerungsstücke aus verschiedenen Zeiten umfassen. Über den Umgang mit vertrauten Gegenständen wird das Langzeitgedächtnis aktiviert; in der Gruppe entstehen so lebhafte Gespräche. Auch für meine individuell erstellte Lebensrückblickbilanz kann ich dieses Material nutzen.

Das Zentrum verfügt über 179 Plätze im stationären Bereich sowie 17 Personen, die im betreuten Wohnen leben. 85 % der BewohnerInnen sind Frauen mit einem Durchschnittsalter von 85 Jahren, wobei die Spannbreite bei 59 Jahren bis 104 Jahren liegt.

Die heterogene Altersstruktur geht mit besonderen Anforderungen an die Gestaltung der Angebote einher und erfordert einen individuellen Zuschnitt. Der Großteil der BewohnerInnen benötigt im Alltag Unterstützung; der Hilfebedarf variiert dabei von leichterer Hilfestellung bis hin zu schwerster Pflegebedürftigkeit. Die Mobilität ist vielfach eingeschränkt, und es fehlt an Basiskompetenzen.

Nahezu drei Viertel der BewohnerInnen sind demenziell erkrankt, wobei auch hier der Grad der Erkrankung von leichten kognitiven Einschränkungen bis hin zur schweren Demenz reicht. Die BewohnerInnen aus dem betreuten Wohnen sind weitestgehend aktiv und benötigen nur in geringem Maße Unterstützung.

Die meisten sind multimorbid und haben aufgrund dessen diverse physische Einschränkungen. Im Bereich der psychischen Erkrankungen gibt es neben den demenziellen Erkrankungen eine Häufung im Bereich der affektiven Störung, hier speziell der Depression. Auch Zwangsstörungen und Ängste werden gelegentlich diagnostiziert.

Allerdings geht das Seniorenzentrum davon aus, dass es in dieser Altersklasse eine Diagnoselücke gibt. Die differentialdiagnostische Untersuchung durch Hausärzte erfolge sehr eingeschränkt. Die Diagnose Demenz werde sehr schnell ausgesprochen, ein Abklären weiterer psychischer Symptome dagegen oft vernachlässigt. Hier bestehe sicherlich ein Verbesserungsbedarf.

Aus einer aktuellen Befragung (Psychotherapeutenvereinigung) geht hervor, dass in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis die weibliche Altersgruppe 51 - 60 Jahre mit 16,9 % vertreten ist, die Altersgruppe 61 - 70 Jahre mit 5,2 %, die Gruppe 71 - 80 Jahre mit 1,4 % und die Gruppe 81 - 90 Jahre nur noch mit 0,2 %. Das bedeutet, dass die BewohnerInnen in Senioreneinrichtungen psycho - the rapeutisch so gut wie nicht versorgt sind.

Für ein von Hautzinger (2000) entwickeltes kognitiv-verhaltens therapeutisches Gruppenprogramm (KVT) bei Depressionen im Alter konnte die Effektivität in einer kontrollierten Vergleichsstudie (Hautzinger & Welz, 2004) nachgewiesen werden. Es handelt sich um ein Gruppentherapieprogramm über ca. 12 Sitzungen.

Im weitesten Sinne bietet das AWO-Seniorenzentrum Gruppengespräche, themenspezifische Gesprächskreise und vor allem Einzelgespräche (auch zur Krisenintervention) an. Sie ersetzen aber keine individuelle psychotherapeutische Behandlung.

Die Einrichtung bestätigt, dass Traumatherapie dringend erforderlich sei. Im Rahmen der Biographie-Arbeit, die im Hause stattfindet, wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben für die BewohnerInnen von großer Bedeutung ist. Eine spezielle Traumatherapie, die dazu beiträgt, belastende Traumaerinnerungen aufzulösen, wäre sehr hilfreich, aber dazu fehlen die Kompetenzen.

Deshalb möchte ich im Rahmen eines Pilotprojekts BewohnerInnen mit unverarbeiteten Traumaerfahrungen und Erinnerungen die Möglichkeit geben, diese schonend zu bearbeiten und sich zu entlasten. Dazu arbeite ich mit modernen Traumatherapiemethoden wie EMDR und Brainspotting und einer speziellen Erfassung der Biographie.

In enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Einrichtung bekomme ich hilfreiche Informationen über akute und komplexe Traumatisierungen. Das Personal erfährt über die Biographiearbeit sowie über Fremdinformationen durch Angehörige von traumatisierenden Erfahrungen. Das Pflegepersonal ist sensibilisiert und bemerkt Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. das nächtliche Aufwachen nach Alpträumen und Angstzustände.

Wenn bekannt ist, dass BewohnerInnen in der Lebensgeschichte eine Vergewaltigung erlebt haben, verzichtet die Einrichtung z. B. auf männliches Pflegepersonal, um die Betroffenen zu schonen und zu schützen. Obwohl es ein großes Fortbildungsangebot für Fachkräfte im Seniorenbereich gibt, ist das Thema »Trauma und Traumareaktivierung im Alter« noch unterrepräsentiert.

Weitere Schulungen zu diesem Thema wären sehr wünschenswert. Außerdem bestätigte die Gerontologin, dass sie sich eine größere Vernetzung und einen regeren interdisziplinären Austausch zwischen Mitarbeitern in Senioreneinrichtungen, Ärzten und Psychotherapeuten wünschen würde. Dieses Pilotprojekt könnte ein erster Anfang sein.

Wie können wir diese Generation erreichen?

Die ältere Generation ist in einer Zeit geboren, in der psychische Erkrankungen noch als Schande oder Versagen galten. Immer noch bestehen große Vorbehalte; häufig findet sich die Vorstellung: Wer zum Psychotherapeuten geht, ist »verrückt«.

So stellte sich die Frage, wie Betroffene auf psychotherapeutische Angebote in Senioreneinrichtungen aufmerksam gemacht werden könnten. Frau Verhülsdonk sprach die Empfehlung aus, auf diesen Personenkreis zuzugehen, wiederholt Kontakt zu den BewohnerInnen aufzubauen und - wie bei diesem Projekt - Angebote ins Haus zu holen.

Das bedeutet: »ein traumatherapeutisches Angebot da anbieten, wo die Menschen sind. Wir können nicht erwarten, dass diese Generation den Weg zum Psychotherapeuten alleine findet, wenngleich die folgenden Generationen es vielleicht leichter haben werden«. Sei keine hinreichende Mobilität mehr gegeben, werde ein Behandlungsangebot vor Ort auf jeden Fall notwendig.

Weiterhin teilten wir die Auffassung, dass es günstiger sei, den Störungsaspekt zu verlassen und eher den Gesundungs- und Heilungsaspekt in den Vordergrund zu stellen. Deshalb wurde ein Flyer mit dem Titel »Altlasten über Bord werfen« konzipiert und fand sofort Anklang. Darin wird das Angebot als Möglichkeit beschrieben, Abstand zu belastenden Erinnerungen zu bekommen, die Lebensfreude zu steigern und sich entlastet zu fühlen.

Nach einem Vortrag über das Therapieangebot im Hause war die Resonanz erstaunlich groß. Jetzt wird eine wissenschaftliche Begleitung erarbeitet. Mit einem Prä- und Posttest möchten wir die Therapieeffekte überprüfen. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Seniorenzentrum in Köln. Erste Erfahrungen mit PatientInnen scheinen vielversprechend zu sein.

Psychotrauma Treatment for the Elderly Necessities and potentialities

Summary

In Germany, psychotherapeutic care for the elderly is patently inadequate, in fact the situation has emergency status. Practical experience tells us that specific trauma therapy for this age-group is imperative. In individual cases, features associated with old age (restricted mobility, sensory deficiencies, pain and illness, leave-taking) can induce a feeling of powerlessness and lead to a reactivation of earlier trauma(s). Useful in such cases is a brief-therapy strategy combining elements of EMDR and brainspotting with a retrospective intervention. As this age group has little access to psychotherapeutic offerings, there are plans to organise a local treatment unit at a senior citizens' centre in Cologne. The unit will be called »Throwing Ballast from the Past Overboard «. It is a pilot project conducted under scientific supervision.

Keywords

psychotrauma treatment, elderly people, trauma reactivation, EMDR, brainspotting, retrospective intervention

Literatur

Hautzinger, M. (2000). Depression im Alter. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Gruppenprogramm. Beltz/PVU, Weinheim.

Hautzinger, M. & Welz, S. (2004). Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen im Alter - Ergebnisse einer kontrollierten Vergleichsstudie. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 36(4), 789-798.

Verfasserin

Tomris Grisard, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis für Verhaltenstherapie, Zertifizierte EMDR Therapeutin und EMDR-Supervisorin, Brainspotting. Frau Grisard ist Referentin am Institut für Traumatherapie in Berlin zum Thema » Altlasten über Bord werfen« - Traumabehandlung bei älteren Menschen: Flyer mit weiteren Informationen zum Seminar am 01. und 02. September 2012.


Kontaktadresse
Psychotherapeutische Praxis
Dipl.-Psych. Tomris Grisard
Steinkrügerstr. 11
50825 Köln
Tel.: 0221/554113
t.grisard@web.de