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Alle Rechte beim Institut für Traumatherapie Oliver Schubbe bzw. beim Autor.
Dieser Artikel möchte ein Analyseschema vorstellen, das es TherapeutIn und KlientIn gemeinsam erlaubt, die individuellen Dissoziationsmuster der Klientin wahrnehmen zu lernen. Die Erfahrungen der Unterbrechung der neuronalen Verarbeitung, des Abbruchs der internen (und oft auch der externen) Beziehungen (1) werden dadurch weniger angstbesetzt, voraussehbarer. Auf dieser Basis eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, inner- und außerhalb des therapeutischen Settings einen veränderten Umgang mit Dissoziationen zu erarbeiten.
Alle Therapieschulen haben unterschiedliche Methoden entwickelt, mit den "shattered assumptions" (2) umzugehen, dem missbrauchten Vertrauen, dem zerrütteten Sicherheitsempfinden, dem Gefühl endloser Schuld in der Hilflosigkeit nach dem Trauma. Auf der Ebene von Werten und anderen intersubjektiv vermittelten Kategorien haben wir nach dem "blaming the victim" (3) große Fortschritte gemacht.
Die Parteilichkeit, der "vinculo comprometido" (4) haben Abstinenz oder Neutralität erweitert um den Gedanken der Zeugenschaft (5). In diesem Kontext ist die neuere Traumatheorie und -praxis entstanden.
Auch physiologische Erkenntnisse sammeln wir in den letzten Jahren immer detaillierter. Sie belegen die Theorien der Désintégration/Dissoziation von Pierre Janet (6) und beschreiben zunehmend genauer die Prozesse, die "fehlende Integration" bedeuten (7).
Die therapeutischen Methoden beziehen Wissen aus unterschiedlichsten Schulen ein: z.B. in Hypnotherapie und NLP entstandene Imaginationstechniken und Bildschirmarbeit, Techniken mit verhaltenstherapeutischen Anteilen wie das EMDR, Weiterentwicklungen der Medianlehren (8) oder abreaktiver Methoden wie im Somatic Experiencing (9) und betrachten zunehmend auch die körperliche Verarbeitungsebene (10).
Was demgegenüber aber noch erforderlich ist, ist die Anwendung unserer gesammelten Kenntnisse im Bereich der Stabilisierung. Hier stehen Übungen und dissoziierendes Individuum oft weitgehend zusammenhanglos nebeneinander.
Stabilisierung soll die Verankerung im Hier und Jetzt gewährleisten, eine sichere Basis für das Funktionieren jenseits der Flashbacks und für die Traumaexposition in der Therapie bieten. Das gelingt gut, solange die Übergänge zu den unangenehmen Erinnerungen absehbar und übersichtlich bleiben, sie sich ankündigen.
Aber wenn die Angst plötzlich kommt, der Persönlichkeitswechsel zu abrupt ist, dann wird es schwierig. Am allerschlimmsten sind all diese unnennbaren Anlässe und Trigger, die nicht isolierbar sind oder so vielfältig, dass der Versuch einer Identifizierung nur hilflos machen kann. Aber wie kann ich der Klientin den Zugang zur Stabilisierung ermöglichen, wenn sie droht, ins Chaos abzurutschen und niemand da ist, der sie "hier" hält?
Das Besondere im Trauma ist ja, dass es alle Kanäle, alle Gewissheiten, alle Werte und alle Beziehungen betrifft, bzw. betreffen kann. Stabilisierung heißt aber, den Kanal zu finden, der am wenigsten betroffen ist, um einen Übergang herstellen zu können auf sicheres Terrain.
Wie können wir gemeinsam mit unseren KlientInnen solche Übergänge schaffen, Brücken errichten in der zerstörten Landschaft? Wie könnte die Wanderin im Hochgebirge erfahren, dass dort vorne der Abgrund lauert? Viele Übungen greifen im ebenen Gelände, aber sobald die Schlucht sich auftut, ist der Zugriff nicht mehr herstellbar. Oder, um im Bild zu bleiben: Wenn das Gewitter kommt, hilft nur ein gutes Frühwarnsystem, ein sicherer Unterstand oder der feste Glaube an ein "Danach", wenn die Rückkehr nicht gelingt. Noch besser oder siegreicher fühlt es sich an, wenn durch die eigene Konzentration das Gewitter abzieht und der Himmel wieder aufreißt. "Wettergöttin" sein, das ist Meisterschaft über das Trauma. Lassen Sie uns sehen, wie das gehen kann.
Alle konstruktiven Möglichkeiten der Bearbeitung von Dissoziationen setzen den Abstand, die Beobachterposition voraus. Im assoziierten Zustand ist das optimale Erregungsniveau (11) zur Bearbeitung nicht gegeben. Das traumatische Wiedererleben muss dann als aggressives, feindliches Element betrachtet, als ein Drittes, Unkontrollierbares empfunden werden.
Nur aus der sicheren Betrachtungsposition - der Aus-einander-Setzung - kann eine Integration ins Hier und Jetzt erfolgen. Dazu bedarf es einer "jetzigen", analysierenden Metaposition. Diese Metaposition (12) kann und sollte auch für die Zeiten erhöhter Dissoziations-"gefahr" erarbeitet werden.
Es sind in den letzten Jahren dankenswerterweise etliche Publikationen auch allgemeinzugänglich geworden, die sich mit Stabilisierungen und dem Umgang mit Dissoziationen beschäftigen (13). In diesem Artikel soll es zusätzlich zu den an anderer Stelle beschriebenen Unterscheidungen nach den "Ebenen dissoziativer Spaltung" (14) wie States, Alters, Persönlichkeitsfragmenten, Flashbacks um eine Mikroanalyse des Übergangs in die Dissoziation gehen.
Nicht die Frage nach der Reorientierung zur Überwindung der Dissoziation ist zu beantworten, und auch der Zweifel des adäquaten Umgangs mit dem dann Auftauchenden ist hier nicht Gegenstand. Es geht um die Betrachtung des als unwillkürlich, nicht-greifbar und unkontrollierbar erlebten Übergangs selbst. (15)
Reddemann 2001 beschreibt ihn als den Punkt, "(w)enn ich während einer Traumaexposition auch nur die leistesten Anzeichen eines 'Weggehens' beobachte"(16). Im Folgenden geht es darum, den Blick für den Übergang zur Dissoziation zu schulen, ein Setting und ein Analyseschema vorzustellen, mit denen beiden, KlientIn wie TherapeutIn, dieser Übergang zugänglich und vertraut gemacht werden kann.
Was brauche ich dazu? Lassen Sie mich das Beispiel weiterspinnen: Ein Wanderer im Hochgebirge wird gut daran tun, sich entsprechendes Schuhwerk zu besorgen, wetterfeste Kleidung anzuziehen und die nötigen Seile und Sicherungshaken bereit zu halten, bevor er sich einem Abgrund nähert oder auch nur auf unsicheres Terrain begibt. Er sollte sich sinnigerweise eine Karte des zu erkundenden Geländes besorgen. Und ein erfahrener Begleiter wäre auch nicht schlecht. All das sind Sicherheitsvorkehrungen, die wir alltäglich mit unseren Klientinnen treffen.
Nun sind unsere Klienten gut ausgerüstet und mit dem Gelände vertraut, sie wissen, welche Schluchten, Abhänge und Flüsse es gibt. Was wir nicht "im Griff" haben ist, dass in diesem Gelände immer wieder Gewitter, Wolken und Winde aufziehen, die Sicht eingeschränkt ist, die Nacht schneller einbricht: die zusammenhängende Wahrnehmung fehlt. Die uns vertraute Wahrnehmung der Kontinuität von Raum und Zeit - nach außen, nach vorne, in die Zukunft gerichtet - funktioniert nur schlecht, wo Brüche, Dissoziationen die Wahrnehmung bestimmen.
Was bräuchten wir dort, wo die Zukunft keine eigene ist und als unvorhersehbar und plötzlich erlebt wird? Eine Wahrnehmung, die sich auf das konzentriert, was im jeweiligen Moment vorhanden ist und daraus Ableitungen für eintretende Veränderungen erlaubt. Ein Gewahrsein des eigenen Körpers und des Raum/Zeit-Bezugs, das es ermöglicht, kleinste Veränderungen sicher und angstfrei wahrzunehmen und neue Entscheidungen zu treffen.
Wir benötigen dazu:
→ Einen dissoziationsfreien Ausgangszustand
→ Ein Schema zur Analyse seiner Bestandteile
→ Einen sanften, kontrollierbaren Wechsel in einen dissoziierten Zustand
→ Die Erfahrung, an welchem Punkt die eigene Wahrnehmung abbricht, die andere Wahrnehmung ansetzt, um rechtzeitig innezuhalten und ggf. zurück zu orientieren.
→ Das Vertrauen, dass Rückkehr möglich ist
→ Als Folge daraus die Erfahrung, dass der Wechsel ein Übergang ist, der herstellbar, kontrollierbar wird.
Als Ausgangspunkt unserer Arbeit mit traumatisierten Menschen, die Schwierigkeiten haben, mit ihren Dissoziationen umzugehen, soll hier die Arbeit aus dem Ressourcenzustand heraus vorgestellt werden.
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Stabilisierungsübungen, die Ressourcen aktivieren und so den Erlebnisbereich jenseits der traumatischen Erfahrungen ausbauen. Sie haben auch einen sehr wichtigen Platz im Alltag der Traumatherapie. Und doch mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Therapeutinnen in Weiterbildungen erstaunt auf die Einführung des Ressourcenzustandes als dauerhafte Begleitung des therapeutischen Kontaktes reagieren. Und sie dann mit viel Interesse und Erfolg übernehmen.
Die hier vorgeschlagene Herangehensweise stellt den Ressourcenzustand, der im Hier und Jetzt angesiedelt wird, in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit mit Dissoziationen (17). Dabei ist es an dieser Stelle unwichtig, ob ein Zielzustand, eine angenehme Erinnerung oder eine angenehme Befindlichkeit im Therapieraum als Ausgangspunkt dient (18) - solange die Klientin die Erfahrung als eine im Hier und Jetzt zu erlebende wahrnimmt. Denn auch die Erinnerung drückt sich ja jetzt in Gedanken, Gefühlen und Körperlichkeit aus.
Dieser Ressourcenzustand ist der Ausgangspunkt der Betrachtung (19). Von ihm aus und auf ihn zu wird die Aufmerksamkeit der KlientIn darin geschult wahrzunehmen, ob ihr momentanes Handeln für den erwünschten Zustand zieldienlich ist oder nicht.
Statt der Konzentration auf Probleme und unangenehme Gefühle soll - zumindest immer begleitend - ein gutes, erwünschtes Gefühl als "Leitsymptom" für die Suche nach einer Lösung so etabliert werden, dass es immer wieder auffindbar ist und jeder andere Zustand im Verlauf der Stunde damit abgeglichen wird. Die Lösungsversuche, die man ja gemeinhin im therapeutischen Setting unternimmt, können dann (z.B. entlang der Körperhaltung) immer wieder auf Stimmigkeit überprüft und wenn nötig geändert werden.
Betrachten wir beispielsweise Frau Harms (20), die mit ständig wiederkehrenden Flashbacks und Alpträumen nach einer Misshandlungsgeschichte durch den Ehemann zu mir in die Praxis kommt. Die Tatsache, misshandelt worden zu sein, hat sie in der Gemeinschaft des Frauenhauses halbwegs "realisieren" können, aber die Intrusionen verhindern jedes Funktionieren im Alltag. Zudem belasten sie aufbrechende Erinnerungen an eine mutmaßliche Geschichte sexualisierter Gewalt in der Kindheit.
Frau Harms sitzt vor mir, der Kopf ist gebeugt, die Schultern zusammengesackt und sie beginnt, von ihren Problemen zu erzählen. Nach einer kurzen Weile unterbreche ich sie:
"Entschuldigen Sie, Frau Harms, ich möchte Sie eigentlich nicht unterbrechen,
aber: Geht es Ihnen gut?"
Sie schaut ziemlich irritiert auf, natürlich ginge es ihr nicht gut, deshalb sei sie doch da.
"Sie haben vollkommen Recht, ich würde Ihnen nur gerne kurz erklären, wie das für mich aussieht. Sie investieren in diese Sitzungen Ihre Zeit und Ihr Geld, und ich möchte doch wissen, wie ich Ihnen helfen kann. Und wenn ich höre, was Sie mir erzählen und sehe, wie es Ihnen immer schlechter dabei geht, frage ich mich, ob das genau das ist, was Sie möchten (21) . Denn ich weiß ja nicht, wie Sie reagieren oder was Ihnen gut tut, und was nach der Sitzung für Sie daraus folgt, können wir beide jetzt wohl gar nicht bestimmen. Und deshalb würde ich gerne zusammen mit Ihnen versuchen, ein Beurteilungskriterium zu finden, das uns schon hier in der Sitzung hilft, festzustellen, ob Sie das, was wir tun, in die richtige Richtung führt. Einverstanden?"
Aber natürlich sei das in Ordnung, sie wisse nur nicht, wie das gehen soll, ich sei doch die Expertin - inzwischen habe ich die volle Konzentration von Frau Harms; als Systemikerin würde ich sagen, sie ist angemessen verwirrt.
"Und deshalb würde ich eigentlich gerne erst mal feststellen, wo es für sie hingehen soll... was für sie rauskommen soll bei der Therapie?"
Frau Harms erzählt mir dann zunächst, dass sie keine Flashbacks und Alpträume mehr haben möchte, geht aber schnell auf meine Fragen ein, was sie denn machen würde, wenn sie die Intrusionen nicht mehr hätte. Als wir bei ihrer ruhigen Alltagsbeschäftigung und dem angenehmen Gefühl, in der Arbeit aufzugehen angelangt sind, frage ich weiter:
"Und wenn Sie sich das jetzt mal so vorstellen, wie das ist: Sie sitzen am Schreibtisch, um Sie herum ist Trubel, aber Sie sind ganz konzentriert und schauen zwischendurch aus dem Fenster ins grüne Laub der Bäume... Wo spüren Sie das in Ihrem Körper? Wie genau fühlt sich das an? Beschreiben Sie das noch mal genauer: Wenn das eine Farbe hätte... eine Form... eine Konsistenz... fließt das... oder welche Körperteile sind noch dabei und spüren das schon...?"
Und wenn sie diesen Zustand genau beschrieben und ausgebaut hat und ich mir einige Schlüsselbegriffe aufgeschrieben habe, dann frage ich Frau Harms, die mittlerweile ihr ursprüngliches Anliegen, mir von den Flashbacks zu erzählen, ganz vergessen hat:
"Und wenn Sie mir jetzt weiter erzählen, können wir uns dann diesen Zustand als Ausgangsbasis merken und als Orientierung dafür nehmen, ob wir so weitermachen sollen? Und Sie sagen mir vielleicht, sobald ich nachfrage, ob er sich verändert und in welcher Hinsicht? Aber vorher noch eine Frage: Auf einer Skala von 1-10, wo würden Sie sich im Moment einordnen, wenn 1 heißt: ganz wenig von dem guten roten Gefühl im Bauch und 10 heißt: so klasse ist es nur ganz selten, also: optimal? Wo befinden Sie sich gerade? Und wie viel Abweichung möchten Sie zulassen, während Sie mir jetzt von Ihren Problemen erzählen?"
Mit der Etablierung des Ressourcenzustandes als ständigen Bezugspunkt während der Therapie orientieren wir an den Ressourcen der Klientin, durch seine permanente Überprüfbarkeit durch Einführung einer Skala und die Festlegung eines Toleranzwertes für die Abweichung gibt der Klientin von Anfang an die Kontrolle über den Therapieverlauf (22) und sie lernt, kleinste Abweichungen wahrzunehmen.
Betrachten wir die Parameter, anhand derer sich der Ressourcenzustand beschreiben lässt, um ein Analyseschema für die misslingende Integration in der Dissoziation zu erhalten. Vor dem Hintergrund der Janetschen Betrachtungen zur Persönlichkeitsentwicklung (23) und einer Analyse von Trancezuständen, wie sie Grundlage hypnotherapeutischen Handelns ist (24), möchte ich folgende Kategorien der Integration vorschlagen (25):
→ die Informationen aus den unterschiedlichen Sinneskanälen
→ die In-Bezugsetzung zu den Dimensionen
→ die Bedeutungszuweisung an die einfließenden Informationen (26)
Diese Kategorien werden, um passgenau zu sein, noch erheblich verfeinert. Eine komplette Auflistung würde den an dieser Stelle gegebenen Rahmen sprengen und kann an anderer Stelle nachgelesen werden (27). Die vollständigen Kategorien bilden die Grundlage, um gemeinsam mit der Klientin ihre dissoziativen Mechanismen bzw. die Brüche in ihrem Verhalten und Erleben zu beschreiben.
Anders als in den (sicher oft für ein Screening hilfreichen) Fragen verschiedener diagnostischer Instrumente, werden hier keine zusätzlichen, in der Vergangenheit aufgetretenen oder überhaupt in der eigenen Geschichte bekannten Situationen evoziert, wird die Aufmerksamkeit nicht auf das breite Spektrum möglicher Erlebensphänomene gerichtet. Ausgangs- und Bezugspunkt ist vielmehr die aktuelle Dissoziation, jene, die beim gerade aktuellen Thema oder im Therapiesetting aufgetreten ist. Und auch diese Dissoziation wird nicht "als solche" betrachtet (wo waren Sie denn da? Wie haben sie das erlebt? Wie fühlt sich das an? Können Sie das genauer beschreiben?), sondern in Beziehung gesetzt zum assoziierten Zustand direkt danach oder davor.
Aber wenden wir uns wieder Frau Harms zu:
Sie sitzt mir einige Stunden später schräg gegenüber, wir haben einen Ressourcenzustand etabliert, der für sie diesmal ein Spaziergang am Strand ist (28): Möwen schreien, und der Wind pfeift; sie fühlt Stärke und Gelassenheit in oberem Brustkorb und Bauch, für beides hat sie eine Farbe gefunden, ihr Körper drückt Kraft aus.
Jetzt kommen wir auf das für diese Stunde bestimmte Thema zu sprechen, das wir eventuell mit EMDR bearbeiten wollen: Ihr Mann hat sie in den Keller des gemeinsamen Hauses geschleppt und misshandelt. Soweit kommen wir aber gar nicht; Frau Harms hat mir gerade noch von dem angenehmen Tag vorher erzählt, als sie "wegrutscht", defokussiert in eine andere Ecke schaut und ich das Gefühl habe, den Kontakt zu verlieren. Ich reorientiere sie durch direkte, energischere Ansprache, mit der ich sie zum Aufstehen auffordere, wir gehen auf den Balkon, Atmen tut gut, sie ist wieder bei mir im Raum.
Als nächstes orientiere ich sie wieder auf die Ressourcensituation, gut geht das nicht, aber immerhin ein bisschen, die Skalierung zeigt eine knappe 5, und das reicht nach gemeinsamer Absprache, um wieder zum Thema zu kommen. Und das ist jetzt: die Dissoziation. Dieser Zustand ist ja der, der sie immer wieder belästigt, wenn sie bei der Arbeit ist und plötzlich "ausblendet", wenn sie endlich mal etwas Angenehmes unternehmen will und "es auf einmal wiederkommt". Ich könnte jetzt fragen, was sie erlebt hat, wo sie mit ihrer Wahrnehmung war. Das wäre interessant für mich, für sie würde es erst mal keinen Unterschied machen, sie kennt den Zustand ja. Ich würde die Aufmerksamkeit orientieren auf eine Szene, die momentan keine Schwierigkeiten hat, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen (29).
Worum es mir und ihr aber geht ist, einen besseren Umgang, einen möglichen Zugang zu der Dissoziation zu erreichen und die Übergänge zu verdeutlichen. Dazu brauchen wir zweierlei: einen stabilen Standort und einen Blick von außen. Was wir hier auf jeden Fall nicht brauchen, ist Wiedererleben. Der stabile Standort ist die Ressourcenhaltung, das Ressourcengefühl: er ist die optimale Verankerung im angenehmen Hier und Jetzt. Um ihn noch genauer zu beschreiben, analysieren wir zunächst noch einmal ihn mithilfe des Schemas: Was sind die Sinneseindrücke? Wie fühlt sich der Bezug zum Anderen an, zu sich selbst, zu Zeit, eigenem Alter und Raum? Was können Sie dann, was denken Sie von sich, wozu sind Sie in der Welt? Wenn wir diese Kategorien am Ressourcenzustand erarbeitet haben, gehen wir weiter. "So, und jetzt möchte ich Sie bitten, einmal ganz kurz an vorhin zu denken, als wir über Ihren Mann geredet haben ... Halt, reicht schon! Jetzt erst mal wieder zurück in die Ressource (und ich zähle ein paar der Parameter auf, um sie dahin zurück zu orientieren): Was ist jetzt grade passiert? Was genau war das Allererste?"
Zuerst kommt ein "Ich weiß es nicht" (30), ich orientiere sie noch einmal in den Problemzustand, nur ganz kurz, vielleicht eine halbe Sekunde. Es geht mir ja um den Übergang, nicht den Zustand. Beim zweiten Mal sagt Frau Harms: "Ich sehe das Dunkel und dann..." und während sie das sagt, droht sie schon wieder wegzurutschen. Also reorientiere ich, und dafür nehme ich mir Zeit. Erst wenn der Ressourcenzustand für den Moment optimal wieder hergestellt ist, schauen wir wieder auf die andere Seite. Wenn Sie es für richtig hält. Für heute ist es genug, wir machen einen Gang durch den Raum, reden über nettere Dinge, gegen Schluss der Stunde ist Frau Harms wieder ganz hier, kann die Ressource (die nach dem Spaziergang der Stand auf dem Boden und die aufrechte Haltung sind) beschreiben und ist erstaunt, dass das ging: mal eben kurz mit einem Fuß in den Flashback und doch zurückzufinden.
Unsere Suche ist die nach der Eintrittskarte in die Dissoziation. Nicht der Trigger interessiert, sondern das, was der Körper, die Wahrnehmung, die Bewertung dann macht. Frau Harms hat in der folgenden Stunde festgestellt, dass ihre Eintrittskarte das Niederschlagen der Augen ist. Und dann hat sie mich angeschaut und einfach geübt, den Blick zu halten, während sie von dem Erleben erzählte. Nicht ganz, nur den Anfang, aber welcher Triumph das war!
Der Übergang in die Dissoziation liegt auf einer der Ebenen des Analyseschemas, und meist wird er eingeleitet von einer winzigen körperlichen Veränderung: dem Senken des Blicks oder der Anspannung eines Muskels, dem Anhalten des Atems, einem Bild oder Satz, das oder der "in den Kopf fällt". Und all die anderen Kategorien hängen daran. Sie zu explorieren, darum geht es nicht. Sie werden kenntlich, aber auch gemildert durch die klare Analyse des Ressourcenzustandes und die Kennzeichnung des Unterschiedes, den die Dissoziation macht (31).
Grundsätzliches Ziel ist es, zunächst die Möglichkeiten der Aufmerksamkeitslenkung zur Erhöhung der Eigenwahrnehmung und des Kontrollerlebens zu schaffen . Nicht immer sind Dissoziationen vermeidbar, das ist auch nicht alleiniger Zweck der Übung. Die eingeführte Metaposition, die parallel zum Erleben die Parameter analysiert ermöglicht aber selbst im unkontrollierbaren Flash-Back das Einnehmen einer Beobachterposition und schafft die Basis für die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Danach kann ich entscheiden, meine Notfallliste zu bedienen, meinen sicheren Ort aufzusuchen, unter die kalte Dusche zu gehen oder eine Runde zu joggen.
Die Einführung der Arbeit aus dem Ressourcenzustand ist in den allermeisten Fällen eine vollkommen ungewohnte Herangehensweise für die Klientin, sehr oft aber (gerade auch in der Arbeit mit Gruppen) eine, die mit viel Enthusiasmus und Interesse in den Alltag und die Folgegespräche mitgenommen wird - fördert sie doch angenehmes Erleben, ohne die Augen vor den Problemen zu verschließen bzw. ausschließlich in die Zukunft zu orientieren. Das gelingt leicht, wenn die Orientierung an der momentanen Befindlichkeit und den Auswirkungen aller Handlungen hierauf ständige Orientierung in der Therapie wird (34). Das Analyseschema kann für den "Hausgebrauch" an die Besonderheiten der Klientin angepasst und gemeinsam umformuliert werden. Es existieren dazu meines Wissens bislang keine Studien, aber in meiner Praxis hat sich für die meisten Klienten ein je spezifisches Dissoziationsmuster (oft auch situationsübergreifend) herausarbeiten lassen.
Frau Harms z.B. hat für sich erarbeitet, dass sie vornehmlich auf Geräusche, Stimmen etc., also dem auditiven Kanal zuerst reagiert, und ihre körperlichen Reaktionen zuerst Augenbewegungen und dann ein Einstellen der Atmung zusammen mit einer Kontraktion der Schultermuskulatur ist. Sobald sie (triggerunabhängig!!) spürt, wie sich ihre Verspannungen im Schultergürtel (die sich erst ein wenig gelockert haben) an einer bestimmten Stelle intensivieren, beginnt sie ihr Wohlfühlprogramm und weiß, dass sie jetzt besser für sich sorgen muss, weil sie anfälliger wird. Und demnächst werden wir einige der verbliebenen Ereignisse mit EMDR bearbeiten können.
Wir haben gesehen, wie die Orientierung am Ressourcenzustand eine Annäherung an die Dissoziation und einen entspannteren Umgang gerade dadurch ermöglichen kann, dass die Dissoziation aus dem Ressourcenzustand heraus freiwillig gewählt wird und ein bewusstes "Switchen" so die Kontrollerfahrung möglich macht.
Die Schritte des Vorgehens sind für Therapeutin wie KlientIn dieselben:
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Wenn das Gewitter hereingebrochen, die Dunkelheit da ist und der Wind pfeift, ist die Panik nicht nur im Hochgebirge ein Begleiter, der die vorher vorhandenen Möglichkeiten der Rettung nicht mehr auffindbar macht. Wer sich ganz im Hier und Jetzt immer darauf konzentriert, guten Tritt zu haben, im Lot zu bleiben und das Wetter in all seinen Merkmalen kennt, der lernt Veränderungen wahrzunehmen, die vorher inexistent schienen: die beginnende Erschöpfung, der bröseligere Untergrund, das Verstummen der Tiere. Nicht immer ist das Unwetter dann zu umgehen, zu vermeiden, der Unterstand noch zu erreichen. Im schlimmsten Fall muss man sich zusammenkauern, einen Fels als Deckung suchen, abwarten und aushalten. Wer den Wechsel zwischen Sonnenschein und Wolkenbruch erlebt hat, weiß, dass jedes Gewitter ein Ende hat. Nur wer den Übergang nicht kennt, ist in jenem Zustand allein mit der Angst.
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Lydia Hantke ist Diplompsychologin und hypno-systemische Therapeutin mit dem Schwerpunkt Traumatherapie. Sie leitet das "institut berlin", ist Dozentin am "Institut für Traumatherapie Oliver Schubbe" in Berlin und koordiniert das Netzwerk TraumaJourFixe (www.traumajourfixe.de.vu). Die "Ressourcenorientierte Traumatherapie" und das Konzept der oben geschilderten Dissoziationsanalyse vermittelt sie in zahlreichen Seminaren und Workshops. |
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