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Nikola v. Saint Paul

EMDR und systemische Familientherapie (2001)

Bei der gemeinsamen Betrachtung von EMDR mit familientherapeutischen Ansätzen fallen zunächst die Gegensätze auf.

EMDR wird üblicherweise im Einzelsetting angewendet. Die Behandlung steht meist im Kontext von bestimmten Krankheitsdiagnosen (typischerweise von traumabedingten - aber auch anderen - Störungen).

In der (systemischen) Familientherapie wird eine Diagnostizierung möglichst vermieden, Konzepte werden "verflüssigt", Symptome werden im Hinblick auf ihre Wirkung im (Familien-)System hin untersucht. Beispielsweise wird ein Patient als "Symptomträger" innerhalb der Familie bezeichnet. Man sucht also nach dem Sinn oder Nutzen, den die Symptomatik für die Familie hat. Insofern ist man recht weit davon entfernt, gezielte Interventionsmethoden zu suchen, mit denen dann der einzelne behandelt wird, um ein Symptom zu beseitigen. Allerdings wurde dies von den Begründern der Familientherapie keineswegs für ausgeschlossen erklärt (vgl. bspw. Stierlin et al. 1977, 16).

EMDR ist dementsprechend in der familientherapeutischen Literatur und den einschlägigen Fachzeitschriften bisher so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden. Eine Ausnahme bildet The Family Therapy Networker im Jahr 1993, der dem Thema EMDR ein Special Feature widmet (vgl. Butler (1993) und O'Brien (1993)).

Von Seiten der EMDR Praktizierenden gibt es durchaus Hinweise auf die Vereinbarkeit. Tinker & Wilson (2000, 229) verweisen auf die Nützlichkeit der Ergänzung der EMDR-Arbeit durch familientherapeutisches Vorgehen. Lempa (2000) beschreibt die Verbindung der EMDR-Einzelbehandlung mit familientherapeutischen Gesprächen innerhalb des stationären Settings und berichtet über positive Erfahrungen im Hinblick auf die Akzeptanz der Behandlung in den Familien.

Ich halte die wechselseitige Betrachtung der Ansätze für sehr fruchtbar und möchte hier einige Gedanken und Erfahrungen dazu darstellen.

 

Die "Konstruktion" einer Symptomatik als traumabedingte Störung

Unter dem Stichwort "Kybernetik zweiter Ordnung" wird die neuere Position innerhalb der systemischen Familientherapie beschrieben, die vom Konstruktivismus geprägt ist: Es gibt keine objektiven Probleme bzw. Störungen, sondern diese formen sich im Rahmen dessen aus, wie sie betrachtet, also "konstruiert" werden. Hier kann von einem "problemspezifischen System" (Schweizer 2000, 231) gesprochen werden, das sich um eine Situation herum bildet.

Wenn eine Symptomatik als Folge eines Psychotraumas verstanden bzw. konstruiert wird, so hat dies in vielerlei Hinsicht Auswirkungen.

Zunächst kann häufig auf der Erlebensebene häufig eine erleichternde Wirkung festgestellt werden. Mit dem Konstrukt "Trauma", bzw. "traumainduzierte Störung" wird eine klare Definition und u.U. entlastende Erklärung des Erlebens angeboten (Herman (1994, 217 ff.)). Das ist bereits bei einfachen Traumata entscheidend und wirkt sich umso deutlicher bei komplexen Störungen aus:

So kann der Mann, der einige Wochen nach einem schweren Verkehrsunfall unverständliche Panikanfälle entwickelt, dadurch sekundär belastet sein, dass er sich Vorwürfe macht, ein psychiatrischer Fall zu sein. Die Möglichkeit, die Symptome als normale und behandelbare Folge eines noch unbewältigten Traumas zu sehen, kann hier bereits entlastend wirken.

Auch auf der Ebene der Erwartungen können Wirkungen der Konstruktion "Trauma" beobachtet werden. Dabei spielen neben den Betroffenen (den Symptomträgern, die körperlich, emotional und gedanklich das "hautnahste" Erleben haben und den Angehörigen, die in vielerlei Weise mitbetroffen sind) die Fachleute und Therapeut/inn/en eine bedeutsame Rolle. Von diesen werden die Konstruktionen angeboten, die auf die Erwartungen der Betroffenen im Hinblick auf Veränderungschancen einen großen Einfluss haben. Auch die Fachleute selbst erleben diese Wirkungen. Eine wesentliche ist die Hoffnung auf Veränderung. (Miller et al. 2000) stellen in ihren zusammenfassenden Betrachtungen der Wirksamkeitsforschung fest, dass etwa 15 % der Therapieeffekte auf die Faktoren Erwartung, Hoffnung und Placebo zurückzuführen sind.)

Dies konnte ich bspw. bei einer langjährig mit "Borderline-Syndrom" diagnostizierten Jugendlichen, deren Behandler/inn/en sie mittlerweile als recht hoffnungslosen Fall von Klinik zu Klinik schoben, miterleben. Hier wurde die Symptomatik unter der Diagnose "Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung" neu "konstruiert".

Deutlich wurde der Effekt der neuen Diagnose zunächst bei der Motivation der Behandelnden, die bis dahin erheblicher Resignation und auch Ärger über die Patientin verfallen waren.

Dann stieg auch die Zuversicht der Patientin selbst, die sich wieder mehr angenommen fühlte und eine leise Chance des doch noch Verstanden-Werdens ahnte.

Danach erst kam es auch zum deutlich sichtbaren Behandlungserfolg (i. S. einer Zunahme der Selbststeuerungsfähigkeit und größer werdenden Affekttoleranz und Selbstakzeptanz).

Selbstverständlich hat die neue Konzeptualisierung auch auf der Handlungsebene Konsequenzen: So kann bspw. klar werden, dass die Lebensumstände verändert werden müssen, dass etwa eine Misshandlungssituation beendet werden muss, um die Sicherheit eines Kindes zu gewährleisten und die Voraussetzung für eine Behandlung überhaupt zu schaffen. (Unter der Auffassung, dass die Symptome des Kindes ein Zeichen seines schlechten Charakters sind, wären ganz andere Konsequenzen erfolgt.)

Auch die Wahl der therapeutischen Mittel wird durch die Konstruktion einer Störung als traumabedingt beeinflusst, was wiederum Folgen im Hinblick auf die Prognose hat.

Als Therapierende sind wir zuversichtlich, mit EMDR eine kraftvolle und effektive Interventionsmethode anbieten zu können. Diese Zuversicht überträgt sich auf die Betroffenen, was wiederum bereits Selbstheilungskräfte mobilisieren und den Zugang zu eigenen Ressourcen fördern kann. So schließt sich der Kreis im Sinne eines durchaus gutartigen bzw. förderlichen Zirkels.

 

Die Erklärung von Hindernissen und Blockierungen beim therapeutischen Prozess in der systemischen Betrachtungsweise

Shapiro (1998, 229 ff.) geht in ihren Ausführungen über Blockierungen auf Faktoren ein, die als technische Fehler der Behandelnden zu betrachten und durch variierte Interventionen zu beheben sind. Auch nennt sie Hindernisse, die im Individuum wirken, wie bspw. "Hintergrunderinnerungen" (239), die die Verarbeitung der aktuellen Dysfunktion blockieren. Diese müssen gefunden und zuerst bearbeitet werden.

Auch die systemische Betrachtungsweise ermöglicht es, Zusammenhänge ins Blickfeld zu bekommen, die die Arbeit mit EMDR behindern. Insbesondere können dies Faktoren innerhalb des größeren Systems sein.

 

Die Grenzen der Eltern können auch die Grenzen ihrer Kinder sein

Insbesondere bei der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen kann es sinnvoll sein, das Augenmerk auf das familiäre System zu richten. Hierdurch kann u.U. eine Blockierung der Arbeit identifiziert und behoben werden.

Beispielsweise leiden Eltern von sexuell missbrauchten Kindern öfters unter den Folgen eigener Traumatisierung. Deren Umgangsweise mit ihrer Geschichte prägt und begrenzt das, was sie ihren Kindern an Verarbeitung zutrauen und zugestehen können.

Wenn eine Mutter mit der Vorstellung lebt, dass die Erinnerung an den eigenen sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit zu schmerzlich ist, um sich an eine Therapie zu wagen, wird sie der Behandlung ihrer Tochter, die ein ähnliches Erlebnis hatte, mit großer Skepsis begegnen und die Tochter tendenziell nicht dazu ermutigen.

Hier müsste zunächst eine Phase der therapeutischen Arbeit mit der Mutter erfolgen, um zu ermöglichen, dass sie die Therapie der Tochter mit der nötigen Zuversicht unterstützen kann.

Auch die innere Erlaubnis zur Heilung kann durch innerfamiliäre Faktoren oder auch durch "systemische Verstrickungen" i.S. von Bert Hellinger (vgl. Weber 1993) erschwert sein. Denkbar wäre auch zur Erklärung einer Therapieblockierung, dass die Tochter aus Gründen der Loyalität zur Mutter und der Identifikation mit deren Haltung, vieles zu erdulden, einer Verbesserung bzw. Heilung ihres Schmerzes zumindest ambivalent gegenüberstünde (vgl. hierzu das Konzept der "Unsichtbaren Bindungen" von Boszormenyi-Nagy & Spark (1981)).

 

Anerkennung im System

Die Anerkennung einer Traumatisierung im größeren System kann eine notwendige Voraussetzung für den Behandlungserfolg darstellen.

Ein 50-jähriger Arbeiter, der bei einem Arbeitsunfall schwer verletzt worden war und dessen körperliche Schädigung mittlerweile recht gut geheilt war, litt an einem chronifizierten Posttraumatischen Belastungssyndrom, das die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hatte. Die EMDR-Behandlung erschien zunächst erfolgreich, um dann zu stagnieren. Es stellte sich heraus, dass die von Seiten seines Arbeitgebers fehlende Anerkennung seiner Beschwerden als Folge des Arbeitsunfalles von ihm als eine so eklatante Ungerechtigkeit erlebt wurde, dass er am Symptom festhalten musste, um nicht im Nachhinein als "Drückeberger" dazustehen.

In solchen Fällen können wir natürlich nicht an der Wurzel des Problems eingreifen. Im beschriebenen Fall erwies es sich jedoch als möglich, die Dynamik deutlich werden zu lassen. Dem Klienten war es dann auch möglich, die Wahl zu treffen, den Teil der selbstgewählten Opfer- und Leidenshaltung aufzugeben, der für ihn selbst einen zu hohen Preis für das Erhalten der Anerkennung darstellte.

 

Nachteile der Diagnose einer Traumabedingten Störung

Zu bedenken ist aus systemischer Sicht jedoch auch die Kehrseite der Diagnose einer Traumastörung. Mitunter kann eine solche Diagnose sich dysfunktional auswirken und einen Behandlungsfortschritt vereiteln. Durch die Zuschreibung einer Störung von Krankheitswert wird der traumatisierte Mensch in einer Position der Schwäche verortet und auf die Opferrolle festgelegt. Dadurch, dass er sich in Psychotherapie begibt, wird die eigene Schwäche zugestanden. Der Schädigende bleibt außerhalb des Blickfelds und der Geschädigte ist "krank", muss Hilfe in Anspruch nehmen und "die Arbeit tun" (vgl. zu dieser Problematik in politischer Hinsicht auch Becker (1997)). Ich halte es für wichtig, diese Dynamik mit im Blickfeld zu behalten. Wenn durch sie bedingte Blockierungen identifiziert werden, können sie möglicherweise im Sinne des kognitiven Einwebens während der Bearbeitung mit EMDR aufgegriffen oder aber in vor- und nachbereitenden Gesprächen behandelt werden.

 

EMDR im familientherapeutischen Setting

Wie bereits für den stationären Bereich beschrieben, lässt die Arbeit mit EMDR sich auch in ein ambulantes familientherapeutisches Setting integrieren. Die lösungsorientierte Haltung, die der Arbeit mit EMDR zugrunde liegt, gehört zu den Grundlagen auch des systemischen Arbeitens. Ebenso wird hier die "Achtung vor der Selbstorganisation" (Schweitzer 2000, 232) beschrieben, die ja in faszinierender Weise bei den durch Augenbewegungen induzierten Prozessen mitverfolgt werden kann. Die Entscheidung, wann Phasen der EMDR-Arbeit erfolgen und wer diese übernimmt (aus Gründen der Neutralität mag es angezeigt sein, eine andere Therapeutin hinzuzuziehen), kann rein pragmatisch und in Übereinstimmung mit dem familientherapeutischen Entwicklungsprozess getroffen werden. Auf jeden Fall scheint es mir nötig und sinnvoll (und aufgrund der beschriebenen Kompatibilität auch möglich) zu sein, EMDR in familientherapeutischen Fachkreisen bekannt zu machen, um unnötiges Leiden verhindern zu helfen.

 

Literatur

Becker, D. (1997): Prüfstempel PTSD - Einwände gegen das herrschende "Trauma"-Konzept. In: medico report 20, 25 - 47

Boszormenyi-Nagy, I. & Spark, G. (1981): Unsichtbare Bindungen. Klett-Cotta, Stuttgart

Butler, K. (1993): Too Good to Be True. In: The Family Therapy Networker 17 / 6 / 18 - 31

Herman, J.L. (1994): Die Narben der Gewalt. Kindler, München

Lempa, W. (2000): Familientherapie mit Traumapatienten. In: Lamprecht, F. et al.: Praxis der Traumatherapie: Was kann EMDR leisten. Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart, 145 - 163

Miller, S.D., Duncan, B.L. & Hubble, M.A. (2000): Jenseits von Babel. Klett-Cotta, Stuttgart

O'Brien, E. (1993): Pushing the Panic Button. In: The Family Therapy Networker 17 / 6 / 32 - 39

Schweitzer, J. (2000): Systemische Therapie. In: Senf, W. und Broda, M. (Hg.) (2. neu bearb. und erw. Aufl.): Praxis der Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, 230 - 238

Shapiro, F. (1998): EMDR - Grundlagen und Praxis. Junfermann, Paderborn

Stierlin, H., Rücker-Embden, I., Wetzel, N. & Wirsching, M. (1977): Das erste Familiengespräch. Klett-Cotta, Stuttgart

Tinker, R.H. & Wilson, S.A. (2000): EMDR mit Kindern. Junfermann, Paderborn

Weber, G. (Hg.) (1993): Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Carl Auer, Heidelberg

 

Autorenadresse:

Nikola v. Saint Paul
Praxis für Psychotherapie und Traumabehandlung
Poststr. 3
D-79098 Freiburg
info@traumatherapie-freiburg.de