Berlin, Februar 1995: Eine Studentin sieht ihr kleines Kind unter ein Auto geraten. Ein Taxifahrer wird ausgeraubt. Eine Bankangestellte wird von fünf bewaffneten Räubern bedroht. Doch niemand wird körperlich verletzt. Der Schrecken scheint vorüber zu sein.
Mai 1995: Die Studentin schafft ihre Prüfung nicht, weil sie sich ganz schwer konzentrieren kann. Sie hat ständig Angst um ihr Kind. Der Taxifahrer schreckt Nacht für Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf. Er arbeitet nun als Kellner, um nicht mehr an den Überfall denken zu müssen. Die Bankangestellte erinnert sich an eine frühere Vergewaltigung, die sie schon dachte, vergessen zu haben. Alle drei Personen fühlen sich unerklärlich stark angespannt. Sie sind verunsichert: Irgend etwas stimmt nicht.
Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine Volkskrankheit wie Diabetes oder Alkoholismus. Zu dieser Streßerkrankung führen traumatische Situationen, die im Alltag einer Großstadt täglich tausendfach passieren: Arbeits- und Verkehrsunfälle, Raubüberfälle, körperliche Mißhandlungen und Vergewaltigungen. Manche Menschen schleppen die Krankheit seit dem Zweiten Weltkrieg oder der Stasi-Haft mit sich herum. Andere bringen sie aus akuten Kriegs- und Katastrophengebieten mit.
Bemerkenswert viele Menschen haben die Kraft, so manche traumatische Erfahrung ohne ärztliche Hilfe zu bewältigen. Ein gutes Viertel der traumatisierten Menschen entwickelt jedoch das vollständige Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung. Charakteristische Symptome sind: von Ängsten begleitetes Wiedererinnern des traumatischen Ereignisses, Vermeiden von Auslösern solcher Erinnerungen, Angstträume, Schlafstörungen, verminderte Teilnahme am sozialen Leben und eine Vielzahl vegetativer Streßerscheinungen.
"Posttraumatische Belastungsstörung" ist ein neuer, in der Öffentlichkeit noch recht unbekannter Begriff. Da Costa beobachtete diese Krankheit erstmals 1871 bei einem amerikanischen Bürgerkriegssoldaten (1). Damals geprägte Bezeichnungen wie "irretable heart", "effort syndrome" und Da-Costa-Syndrom werden in manchen Lehrbüchern immer noch verwendet (2). 1889 führte Oppenheim den Begriff "Trauma" in die Neuropsychiatrie ein (3). Später waren die unzähligen Opfer des Nationalsozialismus', vor allem aber die Veteranen des Vietnamkrieges Auslöser für wissenschaftliche Forschungen und politische Bestrebungen, die 1980 zur Aufnahme von PTSD (post-traumatic stress disorder) ins DSM-III führten.
Grundsätze für das Arztgespräch
1. Normalität: Traumatisierte Menschen denken schnell, ihre Reaktion und sie selbst seien nicht mehr ganz normal. Der Arzt hat die Aufgabe, die Symptome zu normalisieren und als übliche Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis verstehen zu helfen. Er betont dabei, daß die Symptome sehr schmerzhaft, verwirrend und so unbekannt sein können, daß selbst wichtige Bezugspersonen sie nicht verstehen.
2. Selbstbestimmung: Menschen, deren Sicherheitsempfinden und persönliche Würde schwer verletzt wurde, neigen zunächst dazu, in der Opferrolle zu verharren. Um das Trauma zu überwinden, müssen sie wieder Zugang zu ihren Stärken und Bewältigungsstrategien finden. Die Patienten brauchen deshalb Möglichkeiten, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen und gestalten zu lernen. Entscheidungen über die Form und Verlauf der Behandlung sollten partnerschaftlich mit dem Patienten besprochen und gemeinsam getroffen werden.
3. Individualität: Posttraumatische Reaktionsmuster sind so unterschiedlich wie Fingerabdrücke. Deshalb gilt es, von Anfang an auf Besonderheiten der Symptomatik zu achten und einen individuellen Behandlungsplan zu erstellen. Die posttraumatischen Symptome sind so vielfältig, daß die Kategorie PTSD manchmal gar nicht paßt, obwohl schwere Traumafolgen vorhanden sind. In anderen Fällen trifft sie wohl zu, es liegen aber gleichzeitig noch eine Reihe anderer Störungen vor: Phobien, dissoziative Störungen (4), Depressionen, Eßstörungen, antisoziales Verhalten und Suizidalität.
Die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Unfallärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten ist für den Erfolg der Behandlung von ausschlaggebender Bedeutung. Da die Patienten oft selbst nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, bleibt es Aufgabe des Arztes, die Störung rechtzeitig zu erkennen. Ansonsten chronifiziert die Hälfte aller unbehandelten Verläufe. Nur Psychotherapie, die früher als drei Monate nach dem Trauma einsetzt, kann die Chronifizierung vollständig verhindern.
Traumatherapie
Jede anerkannte Form der Psychotherapie enthält das grundlegende "Handwerkszeug" zur Behandlung posttraumatischer Störungen. Der Psychotherapeut stellt ein tragfähiges Arbeitsbündnis her, schafft einen unterstützenden Rahmen für die Bearbeitung belastender Inhalte und ermöglicht Patienten informierte Entscheidungen über die Form der Behandlung.
Lediglich zu Beginn einer solchen Psychotherapie kann es sinnvoll sein, schwere Panikattacken oder Schlafstörungen mit Hilfe von Psychopharmaka, Entspannungsübungen oder Biofeedback zu lindern. Dies hat nach dem aktuellen Stand der Forschung (5) jedoch keine kurative Wirkung. Kurativ und schnell wirken die "Spezialwerkzeuge" - Vorgehensweisen, welche ganz gezielt die traumatischen Erfahrung verarbeiten und integrieren helfen. Dazu ist es wichtig, die Erinnerung mit Hilfe neuer Lernreize oder wiederholter Visualisierung zu desensibilisieren, um ihr schließlich einen angemessenen Platz im Selbst- und Weltbild des Patienten zu geben. Im Laufe der vergangenen Jahre wurden solche traumatherapeutischen Methoden unter mehreren Kürzeln bekannt: TIR (Traumatic Incident Reduction) ist eine regressive Methode, die sich aus analytischen und kognitiven Theorien nährt und die strukturiert, aber trotzdem klientenzentriert vorgeht (6). TFT (Thought Field Therapy) benennt charakteristische Punkte der traumatischen Erfahrung (Veränderung des Atems, Adrenalinstoß etc.) in der erlebten Reihenfolge, um die Erinnerung vollständig anzusprechen.
Von diesen Methoden zur Traumatherapie wissenschaftlich am besten untersucht ist das kognitiv orientierte EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). EMDR ist eine strukturierte, entspannende und stark unterstützende Methode. Bilateral alternierende Reizungen (induzierte Augenbewegungen, Antippen der Hände, Schnippen mit den Händen) bringen die Verarbeitung und Integration der traumatischen Erfahrung wieder in Gang und führen sie zu Ende. Während der Klient eine Erinnerung visualisiert und die dazugehörende Selbstbotschaft und Körpergefühl vergegenwärtigt, bietet der Therapeut die alternierenden Sinnesreize (7). Die Verarbeitung wird so weit beschleunigt, so daß schon nach drei Sitzungen eine signifikante und dauerhafte Verbesserung der Symptomatik beobachtet werden kann (8). Zur Zeit wird erforscht, welche Elemente dieser Methoden effektiv wirksam sind (9). Die meisten der erheblich leidenden Patienten kennen weder selbst die zur Verfügung stehende Hilfe, noch erkennen ihre Ärzte die unspezifischen psychischen und psychosomatischen Beschwerden als unbehandelte Trauma-Spätfolge. Für das bundesdeutsche Gesundheitssystem forderten deshalb schon 1991 Dreßling und Berger (10) die Weiterbildung des Rettungspersonals und der niedergelassenen Ärzte. Psychotherapeuten sollten nur in besonderen Fällen vor Ort eingesetzt werden, statt dessen aber den in der Erstversorgung tätigen Ärzten Fachberatung und Supervision bieten. Nicht zuletzt sind Zeitungen und Fernsehen aufgerufen, im Zusammenhang mit Katastrophenberichten auch sachliche Informationen über Streßerkrankungen zu bringen.
Leitfaden für die ärztliche Befragung (11)
1. Nicht-kriminelle Ereignisse
Haben Sie bisher Ereignisse erlebt, bei denen Sie Angst hatten, umzukommen oder ernsthaft verletzt zu werden?
Haben Sie bisher Situationen erlebt, durch die Sie ernsthaft verletzt oder körperlich beeinträchtigt wurden? Haben Sie je direkt gesehen, wie jemand gewaltsam schwer verletzt oder getötet wurde?
Haben Sie insbesondere jemals
- einen ernsthaften Verkehrs- oder Arbeitsunfall o.ä. gehabt?
- eine Naturkatastrophe - einen starken Wirbelsturm, eine Flutkatastrophe, Erdbeben o.ä.- erlebt?
2. Mord
Der Verlust eines Mitglieds der eigenen Familie kann eine große Belastung bedeuten. Ist bisher jemals jemand aus ihrer Familie oder ihrem engen Freundeskreis umgebracht, hat sich selbst getötet oder ist von einem betrunkenen Autofahrer getötet worden?
3. Vergewaltigung
Viele Menschen, besonders Frauen, erleben unerwünschte sexuelle Annäherungen. Diese Erfahrungen werden oft weder Familie und Freunden noch der Polizei mitgeteilt. Die Personen, von denen die Annäherung ausgeht, ist nicht immer ein Fremder, sondern kann auch ein Freund, Partner, Familienmitglied oder Kollege sein:
Hat Sie bisher irgend jemand mit Drohungen oder Gewalt zu Geschlechtsverkehr gezwungen?
Hat Sie bisher irgend jemand zu oralem oder zu analem Verkehr gezwungen?
Hat bisher jemand mit Drohungen oder Gewalt Gegenstände in Ihre Vagina oder Ihren Anus gesteckt?
4. Sexuelle Belästigung
Über die genannten Situationen hinaus: Hat bisher jemand Ihre Brüste oder ihren Geschlechtsbereich unter Drohungen oder Gewalt berührt oder sich selbst an diesen Stellen berühren lassen?
Gibt es außer den besprochenen Situationen noch andere, in denen Sie keinem direkten sexuellen Kontakt ausgesetzt waren, in denen Sie aber dahingehend unter Druck gesetzt wurden?
5. Körperliche Gewalt
Eine weitere Form belastender Ereignisse ist körperliche Gewalt. Abgesehen von dem, was Sie bisher beschrieben haben, hat je jemand - auch Familie oder Freunde - Sie mit einer Waffe, einem Messer oder einem anderen Gegenstand bedroht? Es spielt keine Rolle, wie lange das Ereignis zurückliegt oder ob sie es angezeigt haben. Hat Sie jemand - auch Familie oder Freunde - ohne Waffe körperlich angegriffen, um Sie zu töten oder zu verletzten?
Anmerkungen: