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Oliver Schubbe
EMDR in der Therapie mit psychisch traumatisierten Jugendlichen (2000)
Der erste Teil des Beitrags fasst den Stand der Forschung zu EMDR zusammen. Der zweite Teil beschreibt ein paar allgemeine Aspekte der Traumatherapie mit Jugendlichen und der dritte die Anwendung von EMDR bei Jugendlichen in Verbindung mit einer manualisierten Vorgehensweise nach Dr. Ricky Greenwald. EMDR ist keine neue Therapierichtung, sondern ein schulenergänzendes Zusatzverfahren; und so ist die hier vorgestellte Möglichkeit, EMDR bei Jugendlichen anzuwenden, nur eine von vielen, die sich allerdings bewährt hat.
Der steile Weg von EMDR zur wissenschaftlichen Anerkennung war von Anfang an von großer Begeisterung und heftigen wissenschaftlichen Kontroversen begleitet. Shapiros erste Berichte (1989a, 1989b) mit Darstellungen der Vorgehensschritte beschrieben bedeutsame Besserungen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach einer einzigen Sitzung "Eye Movement Desensitization" (EMD). Auf dem Hintergrund, dass PTBS bis dahin als schwer behandelbar und die Behandlungsmethoden als langwierig, anstrengend und begrenzt wirksam galten (Solomon, Gerrity, & Muff, 1992), stieß EMDR zunächst auf skeptische Zurückhaltung. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch eine weitere Wirksamkeitsstudie zur Therapie von PTBS, in der Peniston (1986) 45 Sitzungen Entspannung und Systematische Desensibilisierung plus Biofeedback mit einer Kontrollgruppe ohne Therapie verglichen und nur bei einzelnen Symptomen [Albträume, Muskelanspannung, Angst] von PTBS einen signifikanten Rückgang festgestellt hatte. Im Jahr der ersten Untersuchung von Francine Shapiro wurden noch drei weitere Untersuchungen zur Behandlung von PTBS veröffentlicht, von denen keine auch nur annähernd vergleichbare Behandlungserfolge berichten konnte.
- Brom et al. (1989) verglichen tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Hypnotherapie und Systematischer Desensibilisierung. Nach durchschnittlich 16 Sitzungen fanden sie bei allen drei Methoden bei ca. 60 % der Probanden geringe bis mittlere Behandlungseffekte.
- Cooper & Clum (1989) verglichen Flooding mit dem Behandlungskonzept der Veterans Administration und fanden nach 6 bis 14 Sitzungen geringe Verbesserungen, bei einer Abbruchquote von 30 %.
- Keane et al. (1989) untersuchten ebenfalls Flooding mit einer Kontrollgruppe auf Warteliste und konnten nur geringe Verbesserungen feststellen.
Beachtung schenkte die Fachöffentlichkeit den Ergebnissen von Shapiro (1989a) jedoch erst, als ihr Doktorvater Joseph Wolpe ihre Arbeit mit einer Anmerkung über seine eigenen Erfolge ergänzte (Shapiro, 1989b) und eine eigene EMD-Falldarstellung veröffentlichte (Wolpe & Abrams, 1991). Nachdem er 1991 auf einem Jahrestreffen der "Association for the Advancement of Behavior Therapy" EMD als einen wichtigen Meilenstein bezeichnet hatte, kam es zu einer Flut von Einzelfallstudien [Eine Auflistung enthält Shapiro (1995)] und kritischen Replikationsstudien. Gerade die Tatsache, dass in vielen dieser Fälle bereits nach der ersten Sitzung eine deutliche Erleichterung auftrat, schürte die Kritik, EMD masse sich eine höhere Wirksamkeit als die wissenschaftlich viel besser untersuchten kognitiv-verhaltens-therapeutischen Verfahren an (z.B. Herbert & Meuser, 1995). Shapiro entkräftigte dieses Argument damit, dass zu dieser Zeit noch kein einziges Verfahren zur Behandlung von PTBS ausreichend mit Kontrollgruppendesigns untersucht war, wie die Literaturrecherche von Solomon et al. (1992) [Solomon et al. (1992) fanden in der Literatur lediglich sechs psychotherapeutische Studien und bewerteten alle als methodisch begrenzt] belegt.
Mittlerweile hatte Francine Shapiro gemerkt, dass viele Therapeutinnen in den Untersuchungen ihrer Methode von ihrem ursprünglichen Vorgehen abwichen. Sie würdigte die Komplexität ihres Vorgehens, indem sie die prozessgeleiteten Elemente ausformulierte und diese mit dem Wort "reprocessing" dem Namen hinzufügte (Shapiro, 1991b). Sie erweiterte ihr Ausbildungscurriculum um sorgfältig angeleitete und supervidierte Therapieübungen in Kleingruppen und empfahl dieses supervidierte Training als Mindestvoraussetzung für die therapeutische und wissenschaftliche Anwendung (Shapiro, 1991a) - ein Standpunkt, der durch spätere Forschungsergebnisse bestätigt wurde (Greenwald, 1995a, 1996). In der Zwischenzeit wichen die veröffentlichten Wirkungen von EMD und EMDR deutlich voneinander ab, wahrscheinlich aufgrund der, durch die Ergänzungen erreichten Unterschiede dieser beiden Verfahren (Greenwald, 1994b, 1996). Dies führte zu einer Spaltung zwischen den nun sehr gut in EMDR ausgebildeten Therapeuten, die ihrer positiven Erfahrung vertrauen konnten, und den angemessen kritischen Wissenschaftlern, die von den vorliegenden empirischen Daten nicht zu überzeugen waren. Nach acht kontrollierten Studien wurde EMDR als Behandlungsmethode vom Berufsverband amerikanischer Psychologen (APA) anerkannt. Und das Lehrbuch zu EMDR veröffentlicht (Shapiro, 1995). Gleichzeitig wurde die von Dr. Francine Shapiro unabhängige Fachgesellschaft EMDRIA (EMDR International Association) gegründet, um einheitliche Richtlinien zur Lehre und Anwendung von EMDR zu schaffen.
EMDR als Behandlungsstandard für PTBS
Seit dem Literaturüberblick von Solomon et al. (1992) sind bis heute nur vier randomisierte Vergleichsuntersuchungen mit Kontrollgruppendesign zur Behandlung von PTBS mit anderen Verfahren als EMDR veröffentlicht worden - ausgenommen pharmazeutischer und Biofeedback-Studien:
- Richards et al. (1994) kombinierten Exposition in sensu und in vivo bei hauptsächlich einfach-traumatisierten Kindern über eine Behandlungsdauer von 50 bis 120 Stunden mit dem Ergebnis, dass 80% danach nicht mehr die Kriterien für PTBS erfüllten.
- Marks et al.(1998) kognitive Umstrukturierung mit Behandlungsdauer von 50 bis 120 Stunden führte ebenfalls zu 80% erfolgreicher Therapie
- Foa et al. (1999) und Tarrier et al. (1999) untersuchten 8 Sitzungen mit täglichen Hausaufgaben mit dem Ergebnis von 50 bis 60% Remission von PTBS.
- Tarrier et al. (1999) 16 Sitzungen entweder Exposition in sensu oder kognitiver Therapie führte bei 50- bis 60% zu Besserung
Im Vergleich zu diesen Ergebnissen ergaben alle Untersuchungen zu EMDR, mit im zivilen Bereich traumatisierten Probanden - bis auf eine, eine Remissionsrate von 77 bis 100% nach drei 90-minütigen Sitzungen. (Allen et al., 1999; Maxfield & Hyer, im Druck; Spector & Read, 1998).
Mittlerweile kann EMDR auf Grund von 14 randomisierten Untersuchungen mit Kontrollgruppendesign als Behandlungsstandard für PTBS gelten:
- 1995 wurde EMDR von unabhängigen Gutachtern der APA [APA: American Psychological Association. In diese Liste wurden nur EMDR, Exposition und Streß-Impfungstraining nach Meichenbaum aufgenommen.] in die Liste empirisch validierter Verfahren als "wahrscheinlich wirksam" für PTBS im zivilen Bereich aufgenommen (Chambless et al., 1998).
- Nach Beurteilung weiterer Studien zu EMDR folgte die Anerkennung nach Richtlinien der ISTSS [ISTSS: International Society for Traumatic Stress Studies] von EMDR als effektiv für PTBS.
- Die umfangreiche Metaanalyse aller psychologischen und pharmakologischen Therapien von PTBS von Van Etten & Taylor (1998) schloss: "Die Resultate der derzeit vorhandenen Untersuchungen legen nahe, dass EMDR wirksam für PTBS ist, und dass es effektiver als andere Therapien ist."
Vergleich mit anderen Behandlungsmethoden für PTBS
EMDR wurde mit verschiedenen anderen Therapiebedingungen verglichen: (1) Kontrollgruppe auf Warteliste (Rothbaum, 1997; Wilson et al., 1995, 1997), (2) Versorgungsstandard der US-amerikanischen Veteran Administration (Boudewynss& Hyer, 1996; Jensen, 1994), (3) Entspannung mit Biofeedback (Carlson et al., 1998), (4) Entspannung (Vaughan et al., 1994), (5) Aktives Zuhören (Scheck et al., 1998), (6) einzeltherapeutische Verfahren (z.B. Exposition, kognitiv, tiefenpsychologisch; Marcus et al., 1997), (7) Expositionsverfahren (Vaughan et al., 1994; Ironson et al., im Druck), (8) Kombinationen aus Expositions- und kognitiven Verfahren (Devilly & Spence, 1999; Lee & Gavriel, 1998).
Alle Wirksamkeitsstudien zur PTBS-Behandlung, die mit Kriegstraumatisierten durchgeführt wurden, weisen methodische Mängel auf. In den Untersuchungen zu PTBS im zivilen Bereich war EMDR durchgängig wirksamer als alle Kontrollbedingungen außer bei Devilly & Spence (1999). Devilly und Spence stellten in ihrem Vergleich von EMDR mit einem "Trauma Treatment Protokoll (TTP)" mit EMDR eine niedrigere Remissionsquote fest. TTP ist eine Mischung aus in vivo und in sensu Exposition, kognitiver Umstrukturierung und Stress- Impfungs-Training. Das Protokoll wurde von den Untersuchern selbst entwickelt. Shapiro betont, dass die Effektivität dieses Protokolls in anderen Studien repliziert werden und Konfundierungen (mangelnde Randomisierung, nicht standardisierte psychometrische Messungen) wie in der Deville und Spence Studie dabei vermieden werden sollten. Exposition erwies sich als ähnlich wirksam wie Stress-Impfungstraining und wirksamer als unterstützende Gespräche und Warteliste (Foa et al., 1991, 1999). Exposition und kognitive Therapie zeigten vergleichbare Erfolge und waren Entspannungsverfahren gegenüber überlegen (Marks et al., 1988). Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass 77 bis 90% der Probanden nach EMDR im Unterschied zu vorher kein PTBS mehr haben. Die anderen Studien, die EMDR mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansätzen vergleichen, fanden EMDR teilweise überlegen und teilweise ebenso wirksam (Ironson et al., in Druck; Lee& Gavriel; Rogers et al., 1999; Vaughan et al., 1994).
Die Metaanalyse aller Behandlungsformen von PTBS von Van Etten & Taylor (1998) zeigte EMDR, Verhaltenstherapie und SSRIs als wirksamste Verfahren. Van Etten und Taylor schlossen, dass EMDR die effizienteste Therapieform ist, da die Studien zeigten, dass man mit EMDR die gleiche Wirkung in einem Drittel der Zeit erzielen kann, verglichen mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Verfahren.
Die Schwierigkeit beim direkten Vergleich von Behandlungstechniken liegt darin, dass es sich häufig um wechselnde Behandlungsprotokolle handelt. Das Vorgehen mit EMDR ist seit 1991 weitgehend gleich geblieben (Anwendung standardisierter Untersuchungselemente, begrenztes Maß an direkter Aufmerksamkeit und Exposition, freie Assoziation, kognitive Umstrukturierung, verschiedene Methoden bilateraler Stimulation) und seit 1995 ist das Standardprotokoll für den Therapieverlauf veröffentlicht (Shapiro, 1995). Im Gegensatz dazu haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsabläufe sehr stark verändert und kontinuierlich neue Elemente in ihre Protokolle einbezogen. Shapiro führt hierfür die Studie von Foa et al. (1991) als Beispiel an, bei der während der ersten Evaluation von Expositionsbehandlung bei, im zivilen Bereich Traumatisierten zusätzlich zu in vivo Exposition eine 90-minütige in sensu Exposition und tägliche Hausaufgaben mit in sensu Exposition durchgeführt wurden. 25 Stunden Exposition führten hier zu einer 55%-igen Remission der PTBS. In der anschließenden erneuten Überprüfung des Protokolls von Foa (Tarrier et al., 1999) wurden 16 einstündige Sitzungen durchgeführt, wobei für einige Teilnehmer ein spezifisch hierarchischer Ansatz eingeführt wurde und die Hausaufgaben herausgenommen wurden. Auch diese Studie führt zu einer 50%-igen Remissionsrate von PTBS. Die einzige andere Vergleichsstudie von einem unabhängigen Forscherteam, die sich mit reiner Exposition beschäftigt (Marks et al., 1998) ergänzte die Exposition in sensu während der Sitzungen mit zusätzlich in vivo Exposition und täglichen Haus-aufgaben mit einer Gesamtzeit von 112 Stunden Exposition und fand danach eine Remission von PTBS bei 80% der Probanden. Die Untersuchungen zur Wirksamkeit kognitiver Therapie (Foa et al., 1991; Marks et al., 1998; Tarrier et al., 1999) benutzten jeweils unterschiedliche Therapieprotokolle, ebenso wie die fünf Studien zu kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren (Devilly & Spence, 1999; Echeburua et al., 1997; Foa et al., 1999; Glynn et al., 1999; Marks et al., 1998).
Basiert EMDR auf einem neuen Prinzip?
Nachdem sich EMDR insgesamt als eine wirksame Therapie für PTBS erwiesen hat, stellt sich nun die Frage, welche Komponenten des Verfahrens zu dieser Wirkung führen. In der Zusammenfassung der ISTSS-Richtlinien [ISTSS: International Society for Traumatic Stress Studies] heißt es: "Der Forschungsstand legt nahe, dass EMDR für PTBS eine effektive Behandlung ist. Ob die Effektivität nun darin besteht, dass es sich um eine neue Variante der Expositionstherapie handelt (mit einigen Zutaten der kognitiven Therapie) oder ob es auf neuen Prinzipien basiert ist unklar" (Shalev, Foa, Keane, & Friedman, 2000, S.366). Shapiro bezeichnet diese Frage als besonders wichtig, da es sich bei EMDR eher um unterbrochene als um andauernde Exposition im Zusammenhang freier Assoziation handelt. Das sei den Prinzipien und der Praxis von Expositionsverfahren vollkommen entgegengesetzt.
Jede Therapiemethode besteht aus einer Reihe von Elementen, deren relative Gewichtung und Interaktion miteinander erst einmal nicht bekannt sind. Zur Beantwortung dieser Fragen sind Komponentenanalysen notwendig.
In der einzigen Komponentenanalyse mit PTBS-diagnostizierten Probanden zur Evaluation des original "EMD" Protokolls (Shapiro, 1989a) war die Komponente Augenbewegungen notwendig, um positive Behandlungserfolge zu erzielen. Bei fünf von sechs Beteiligten führten die Augenbewegungen zur Verringerung von subjektivem Stress und reduzierten das Ausmaß psycho-physiologischer Erregung. Die jetzige Version von EMDR wurde mit einer ganzen Reihe klinischer Elemente verfeinert. Deswegen ist zu vermuten, dass EMDR auch ohne Augenbewegungen bleibende therapeutische Effekte haben könnte.
Die Komponentenanalysen, die bisher mit EMDR durchgeführt wurden, zeigen sowohl in Gruppen- als auch in Einzeluntersuchungen, dass die Augenbewegungen für den Erfolg der Therapie mit EMDR wichtig sind, allerdings weist Shapiro darauf hin, dass diese Studien größtenteils mit methodischen Fehlern behaftet sind. Als ein wesentliches Problem nennt Shapiro, dass in der Placebogruppe häufig alternative Stimuli dargeboten werden, die in der Praxis auch schon seit Jahren erfolgreich im Zusammenhang mit EMDR angewendet werden. Vor diesem Hintergrund sei es dann nicht verwunderlich, dass keine Unterschiede zwischen Kontroll- und Experimentalgruppe gefunden würden. Ein Beispiel ist die Untersuchung von Pitman (1996), in der die Bedingung EMDR mit Augenbewegungen mit der Bedingung "Blickfixierung mit bilateraler Handbewegung des Therapeuten" verglichen wurde. Gegen eine so gewählte Kontrollgruppe sprechen auch die Ergebnisse von Corbetta et al. (1998), der beim Vergleich der Bedingungen bilateraler Augenbewegungen und Blickfixierung mit peripher bilateraler Aufmerksamkeit eine 80%-ige Überlappung von Hirnaktivitäten feststellte. Dies stimmt mit der Hypothese überein, dass Aufmerksamkeits- und okulo-motorische Prozesse auf neuronaler Ebene eng verknüpft sind.
Eine Hypothese über die Wirkung der Augenbewegungen bei EMDR ist, dass "sie die Lebhaftigkeit belastendender Bilder verringern, indem sie die Funktion des visuell-räumlichen Zentrums des Ultrakurzzeitgedächtnisses unterbrechen und so die Intensität der Emotionen, die mit diesem Bild assoziiert sind, verringern. Demnach müssten auch andere visuell-räumliche Aufgaben therapeutisch wertvoll sein." (Andrade et al.,1997, S.209). Andrade konnte diese Hypothese in einer Reihe von Untersuchungen bestätigen. Es zeigte sich, dass die Augen-bewegungen den anderen dualen Aufmerksamkeitsbedingungen bei der Wirkung auf Bildhaftigkeit und Intensität autobiografischer Bedingungen überlegen sind, während der Effekt auf, im Labor induzierte Erinnerung bei allen Bedingungen gleich ist (Andrade, 1997).
Lohr et al. konnten diese Beobachtung in einer Untersuchung mit Phobikern replizieren. Die Augenbewegungen waren nur dann für die Wirksamkeit von EMDR notwendig, wenn es sich um autobiografische Erinnerungen handelte (Lohr et al., 1997). Diese Befunde sind sehr bedeutsam, da es sich bei ätiologischen autobiografischen Erinnerungen um einen wesentlichen Bestandteil der Diagnose PTBS handelt und außerdem die Unterscheidung zwischen autobiografischen Erinnerungen und konditionierten Reaktionen erleichtert wird (siehe de Jong et al., 1999; Shapiro, 1995, im Druck).
Die Anwendung von EMDR bei Jugendlichen
Greenwald (in press-b) vergleicht in einer Untersuchung von 29 männlichen Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens, die zu diesem Zeitpunkt alle stationär oder teilstationär untergebracht waren und drei Sitzungen EMDR bekamen, mit einer randomisierten Kontrollgruppe. Die Gruppe, die drei Sitzungen EMDR erhielt, verzeichnete einen deutlichen und signifikanten Rückgang der von Erinnerungen ausgelösten Stresssymptomatik sowie eine Tendenz zur Remission posttraumatischer Symptome. Noch bei der Nachuntersuchung 2 Monate nach Therapieende zeigte diese Gruppe signifikant weniger Verhaltensprobleme als die Kontrollgruppe. Diese Ergebnisse sprechen für die Anwendung von EMDR zur traumaorientierten Therapie bei männlichen Jugendlichen im Alter von 10-16 und die Hypothese, dass wirksame Traumaarbeit bei dieser Population Störungen des Sozialverhaltens verringert.
Familiensystem und Traumatogramm
Jugendliche wachsen in einem Familiensystem oder einem professionellen Betreuungssystem auf, welches seinerseits in das soziale Netz der Gemeinde mit seinem Helfersystem eingebettet ist. Zur Darstellung der jeweiligen Systeme sind Genogramme und Soziogramme geeignet, in welche die häufigsten Attribute von Systemen eingetragen werden, die besonders anfällig für Traumatisierungen von Kindern sind oder bereits systemische Traumafolgen zeigen:
- eine zentralistische oder patriarchale Machtstruktur
- geringe Transparenz/Vernebelungen, belastende Geheimnisse (geringe Fähigkeit zur Integration systeminterner Information)
- gestörte emotionale Bindung zu potentiell schützenden Erwachsenen
- hohe Loyalitätsbindung zu traumatisierenden Erwachsenen
- zentripedales System mit rigiden Außengrenzen verhindert alternative Beziehungen für Täter und Opfer (z.B. Hilfsangebote, welche die kindlichen Bedürfnisse erkennen, sowie für das Kind, Hilfe holen zu können)
- Scham nach innen, Ausgrenzung und Misstrauen gegenüber Fremdem (geringe Fähigkeit des System zur Integration von systemfremder Information)
Posttraumatische Symptome, die eine Funktion im System haben und dadurch immer wieder sekundär verstärkt werden, können nicht individuell gelöst werden - auch nicht durch EMDR. Hier sind systemische Interventionen vorrangig geboten.
Entwicklung der emotionalen Selbstregulation und Verhaltenssteuerung
Der Austausch von Information zwischen den Gehirnhälften und die Synchronisation der Gehirnhälften ist von frühester Kindheit an zur Entwicklung der emotionalen Selbstregulation und zum Umgang mit Verhaltensimpulsen notwendig.
Der Verlust der Fähigkeit, die Intensität von Gefühlen und Handlungsimpulsen zu steuern, ist für Kinder die weitreichendste Folge traumatischer Belastungen. Die innere Selbstregulation ist dann besonders gestört, wenn eine sichere Bindung zu den Eltern fehlt. Wenn die innere Selbstregulation nicht ausreicht, den inneren Zustand erträglich zu machen, versuchen Kinder, diesen mit Hilfe von äußerem Verhalten zu regulieren. Hierzu zählen aggressive und selbstschädigende Handlungen, Essstörungen und Sucht. Die Fähigkeit zur Steuerung innerer Zustände beeinflusst wiederum das Selbstbild wie auch das Bild von Anderen und der Welt.
Das MASTR-Therapiemanual nach Ricky Greenwald
MASTR steht für "Motivation" - "Adaptive Skills" (Kompetenzen) und "Trauma Resolution" (Traumabearbeitung) und beschreibt den strukturierten Einsatz von EMDR mit Jugendlichen in der Version nach Dr. Ricky Greenwald (1999, 2000). Das geschilderte Vorgehen kann unabhängig von stationärer Unterbringung, schulischer oder häuslicher Umgebung eingesetzt werden, obwohl eine solche Einbindung vorteilhaft ist. Eine äußere Verpflichtung, die Sitzungen zu besuchen, ist hilfreich. Der Ablauf ist strukturiert, angeleitet und relativ kurz (ungefähr 2 bis 6 Monate). Eine Therapiestunde pro Woche reicht aus. MASTR ist ein traumazentrierter Ansatz (Greenwald, in press-a), der sich auf die Annahme stützt, dass traumatische Erfahrungen sowohl zur Entwicklung wie auch zur Aufrechterhaltung von Störungen des Sozialverhaltens im Jugendalter beitragen (Greenwald, in press-b). Es besteht aus drei sich überschneidenden Phasen: Motivation, Kompetenztraining und Traumabearbeitung, jeweils unter Einbeziehung von EMDR. Sicher verläuft die tatsächliche Behandlung nicht immer nach Plan. Je nach der Person des Therapeuten, des Klienten und je nach Situation entstehen vielfältige Variationen. Das Manual kann aber trotzdem als Vorbild und Richtschnur dienen. Die Inhalte des Manuals stammen aus den Workshops und Veröffentlichungen von Ricky Greenwald aus den Jahren 1997, 1999, 2000 und in press-a.
1 Motivationsentwicklung im Erstgespräch
Ziele: Beziehungsaufnahme, Anamnese, Beginn der Behandlungsplanung
1.1 Klären der Vorbedingungen
- Tonbandaufnahme, "damit ich meine Arbeit besser machen kann."
- Vertraulichkeit - Regeln und spielerischer Kurztest, ob die Regeln verstanden wurden
- Regeln: Niemand muss sprechen, Signal für Redestopp vereinbaren
- Vorerfahrung mit Beratern und Therapeuten und Möglichkeiten, mich richtig einzuschätzen
- "Woran werde ich erkennen, wenn Du ärgerlich oder sauer sein solltest?"
- "Gib mir ein paar Sitzungen um herauszufinden ob es etwas gibt, woran Du arbeiten willst"
1.2 Grundinformation/Perspektiven/Geschichte
- "Ich ziehe es vor, Menschen persönlich kennen zu lernen, anstatt ihre Akte zu studieren, und mir auf diese Weise eine eigene Meinung zu bilden."
- "Buchstabiere für mich bitte Deinen Namen, Geburtstag und Alter."
- Lieblingsfarbe, Lieblingsessen, Lieblingsmusik, schulische Vorlieben/Abneigungen
- Freunde (viele, ein paar, keine, ein bester Freund?)
- Sind die Freunde gut in der Schule, rauchen oder trinken sie, nehmen sie Drogen, kommen sie in Schwierigkeiten?
- "Was unternimmst Du mit Deinen Freunden?"
- Andere Lieblingsaktivitäten und Kompetenzen
- "Welches Tier wärst Du gerne?"
- Drei Wünsche
- Magische Wand - was wäre dahinter anders?
- Quelle der Probleme (innen, außen, Details) & Lösungen (Was bräuchtest Du?)
Entwicklungsgeschichte
- Alter der Mutter bei der Geburt des Jugendlichen
- Drogenkontakt (incl. Tabak, Alkohol, Illegale Drogen, auch vor der Geburt
- Geburtsgewicht
- Probleme vor oder bei der Geburt
- Temperament
- Alter der Bewältigung wichtiger Entwicklungsaufgaben
- Geschichte körperlicher Erkrankungen, Verletzungen und Behandlungen
- Geschichte von Kopfverletzungen (Schlag, Bewusstlosigkeit, einschlägige Symptome)
- Soziale Entwicklung (schüchtern, viele Freunde etc.)
- Schulische Entwicklung
- Gegebenenfalls Geschichte der Konflikte mit dem Gesetz
Familie
- Genogramm / Traumatogramm
- Veränderungen der Familienzugehörigkeit (auch zu Pflegefamilien)
- Familiengeschichte zu Suiziden, psychiatrischen Erkrankungen, Suchtverhalten, Therapiegeschichte
Traumata/Verluste
- Erinnerung an das Stoppsignal
- Vorgabe von Beispielen für mögliche traumatische Erfahrungen
- Alter und Belastungsgrad zu jeder traumatischen Erfahrung erheben
2 Überprüfen der Therapiemotivation
Ziele: Bestimmung persönlicher Ziele, Verpflichtung auf die Therapie
2.1 Zukunftsfilme
Gutes Ende
- Das Alter in 10 Jahren erfragen
- Rahmengeschichte erzählen, ein Video zu holen und anzusehen
- Geschichte auf dem Video von der Geburt bis heute; gutes Kind, schlechte Entscheidungen, die Folgen bringen Schwierigkeiten mit sich
- Geschichte auf dem Weg zum guten Ende und das Ergebnis in 10 Jahren
- Details des guten Endes erfragen (Bild, Gedanke, Gefühl, dazu Augenbewegungen)
- Die einzelnen Stationen auf dem Weg zum guten Ausgang erarbeiten
- Den inneren Film von heute bis zum guten Ende starten und mit Augenbewegungen begleiten
Schlechtes Ende
- Vorstellung vom schlechten Ende mit Details erarbeiten und mit dem Satz "Das ist es nicht wert," verbinden
- Die Vorstellung, dass sich das Problemverhalten auf die Dauer nicht lohnt mit Augenbewegungen begleiten
2.2 Verpflichtung auf die Therapie
Wie groß ist die innere Neigung in jeder Richtung?
- 0-10 zum guten Ende
- 0-10 zur Fortsetzung des momentanen Verhaltens
Stärken und Hindernisse
- Wettspiel-Metapher: "Worauf würdest Du setzen?"
- Stärken
- Hindernisse
Behandlungsplan
- Vermittlung eines adäquaten Störungsmodells, z. B. des Stressmodells
- "Leuchtet Dir das ein?"
- Arbeit daran, innerlich stärker zu werden, um die Ziele zu erreichen
- Beziehungsdefinition: Therapeut als Coach oder Trainer
- Warnung, dass es schwer und langweilig werden kann - wie Liegestützen
- Therapieergänzende Maßnahmen zur Stärkung (je nach bedarf z.B. Anti-Stress-Training, Nahkampfkurs, Sportkurs)
- Überprüfung der Motivation: "Willst Du wirklich daran arbeiten?"
3 Kompetenztraining
Ziele: Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle, geringere Provozierbarkeit
3.1 Aggressions-Frühwarnsystem
- Metapher von der Aggression als Einbrecher: "Willst Du vorbereitet sein oder überrascht werden?"
- Benenne die einzelnen Stufen der Eskalationsleiter der Aggression
- Wiederhole diese Stufen in Zeitlupe und mit Augenbewegungen
3.2 Entscheidungen haben Folgen
- Auswahl einer typischen provozierenden Alltagssituation
- Herausarbeiten des problematischen Entscheidungspunktes und des schlechten Endes. Herleiten der Schlussfolgerung: "Das lohnt sich nicht."
- Bespreche den Ablauf des Films mit schlechtem Ende (Provokation, eigene Reaktion, eigene Handlungswahl, schlechte Folge. Schlussfolgerung: "Das lohnt sich nicht."
- Innerer Film mit offenem Ende - frage, wie er ausgegangen ist
- Bespreche das gute Ende und welche Entscheidung zum guten Ende führt
- Innerer Film mit guter Entscheidung und gutem Ende
- Innerer Film mit offenem Ende, aber der guten Wahl folgt das gute Ende und der schlechten Wahl das schlechte Ende
- Innerer Film mit offenem Ende so lange wiederholt, bis er zwei Mal hintereinander gut ausgeht
- Wiederhole diesen Ablauf mit anderen provozierenden Situationen
3.3 Schutz vor Provokationen
Vorbereitung
- Wenn Du Dich provozieren lässt, wer hat die Kontrolle, Du oder er?
Phantasiespiel
- Wähle den Gegner und eine typische provokative Situation
- Initiiere das Phantasieren einer Comicbuch-Szene, die mit der provokativen Situation beginnt
- Phantastischen Ausgang der Comicbuch-Szene und die dort auftauchende Lösung erfragen
- Inneren Comicfilm initiieren und mit Augenbewegungen begleiten
- Mehrfache Wiederholung des inneren Comicfilms
Trennwände
- Wähle eine typische provokative Situation
- "Warum provoziert jemand, weil Du es verdienst oder weil er sich selbst innerlich unwohl fühlt?"
- "Was könnte bewirken, dass seine schlechten Gefühle bei ihm bleiben, anstatt auf Dich überzuspringen?"
- "Woraus wäre es gemacht? Wie könnte der Schutz wirksam werden?"
- Imagination z. B. einer Trennwand zwischen dem Jugendlichen und dem Provokateur
- Innerer Film mit Augenbewegungen - frage nach dem Ausgang
- Mehrfache Wiederholung mit variierten Methoden und Situationen
Vorbild
- Wähle ein Vorbild, das der Situation gewachsen wäre
- Wie würde dieses Vorbild handeln?
- Innerer Film von der Handlung des Vorbildes mit Augenbewegungen
- Frage, was passiert ist und überprüfe, ob es konstruktiv ist
- Führe in die Vorstellung, in die Rolle des Vorbildes schlüpfen zu können
- Innerer Film des Jugendlichen in die Rolle des Vorbildes, mit Augenbewegungen
- Frage, was passiert ist und überprüfe, ob es konstruktiv ist
- Innerer Film, es selbst so zu können, mit Augenbewegungen
- Frage, was passiert ist und überprüfe, ob es konstruktiv ist
4 Traumabearbeitung
Ziele: Erweiterung der emotionalen Verarbeitungskapazität; Verarbeitung von Verlust- und Traumafolgen
4.1 Vorbereitung
- Erklärung von EMDR: Geschichte, Wirkung, Vorgehen etc.
- Begründung für EMDR: Verletzung (Trauer, Wut, Stress etc.), erhöhter Stress, erhöhte Provozierbarkeit
- Warnung, es könnte anstrengend oder langweilig werden
- Wahl des Ausgangsthemas für die erste EMDR-Sitzung mit einem Ereignis, das erst kurz zurückliegt und gering belastet
Risiken/Ängste
- Stopp heißt Stopp
- Emotionale Offenheit nach der Sitzung, Abschluss der Sitzung im ausgeglichenen Zustand
- Wie lief es für andere Jugendliche?
- übe bewusstes tiefes Atmen zur Beruhigung
- Sicherer-Ort-übung
- Tresor-übung
- Kompetenzen zur Stabilisierung
4.2 Anwendung des EMDR-Protokolls zur Bearbeitung einer kurz
zurückliegenden und nur gering belastenden Erfahrung
- Kurz das Einverständnis erfragen: "Stress macht es schwieriger, sich selbst zu beruhigen und auftauchende Angst zu kontrollieren."
- Wahl des Ausgangsthemas für EMDR
- Durchführung des EMDR-Protokolls für kurz zurückliegende Traumatisierungen; inneren Film und belastendste Situation bearbeiten
- Verfolge keine schwer traumatischen Themen, sondern kehre gegebenenfalls wieder zum gewählten Ausgangsthema zurück
- Verwende bei Bedarf Kognitives Einweben
- Setze den Prozess bis zur Lösung fort
- übe bei Bedarf neue bewältigungsrelevante Kompetenzen ein
- Abschluss mit Sicherem Ort, Tresor oder anderer stabilisierender Imagination
- überprüfe, ob sich der Jugendliche in der Lage fühlt, die Sitzung zu verlassen
4.3 Anwendung des EMDR-Protokolls zur Bearbeitung traumatischer
Erfahrungen oder von Verlusterfahrungen
- überprüfe, ob der Jugendliche EMDR schon für weniger belastende Ereignisse gut für sich nutzen kann
- Erinnere an Stress und erhöhte Provozierbarkeit als häufige Folge traumatisierender Erfahrungen.
- Wiederhole den Sicheren Ort
- Wähle das Ausgangsthema
- Installiere die Vorstellung eines Sicherheitswerkzeugs
- Durchführung des EMDR-Standardprotokolls bis zur Lösung
- Verwende bei Bedarf Kognitives Einweben oder andere Möglichkeiten des Therapeutischen Einwebens
- übe bei Bedarf neue bewältigungsrelevante Kompetenzen ein
- Abschluss mit Sicherem Ort, Tresor oder anderer stabilisierender Imagination
- überprüfe, ob sich der Jugendliche in der Lage fühlt, die Sitzung zu verlassen
Das hier dargestellt manualisierte Vorgehen soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns als Therapeuten angesichts schwerer Traumatisierungen und deren Ausdruck im Verhalten von Jugendlichen sehr hilflos und ohnmächtig fühlen können. Genauso wie ein Plan für den Notfall immer schon rechtzeitig vorbereitet sein sollte, bevor der Notfall eintritt, ist es auch in der Therapie nützlich, einen gut vorbereiteten Plan für die Therapie zu haben, um sich den eigenen Gefühlen und denen des Klienten öffnen zu können.
Es genügt meiner Ansicht nach jedoch nicht, die therapeutische Sicherheit aus dem präsenten Kontakt mit den eigenen Gefühlen und sorgfältig vorstrukturierten Möglichkeiten therapeutischen Handelns zu beziehen. Ebenso wichtig erscheint mir die Pflege und Tragfähigkeit des beruflichen Netzwerks, in dem wir uns selbst Anregungen, Unterstützung und Hilfe holen können - einschließlich der eigenen Supervision, der berufspolitischen, ökonomischen und arbeitsrechtlichen Absicherung, um uns von der in diesem Arbeitsfeld so häufigen sekundären Traumatisierung jederzeit angemessen erholen zu können.
Literatur
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