Erschienen in: C.T. Eschenröder (Hrsg.): EMDR. Eine neue Methode zur Verarbeitung traumatischer Erinnerungen. DGVT-Verlag, Tübingen 1997. ISBN 3-87159-138-6.
Die Kindheit, vor allem die ersten Jahre, gelten als die Zeit, in welcher die menschliche Psyche im Tiegel der Lebenserfahrung grundlegend geformt und geprägt wird. Extremerfahrungen können die relativ stabile Psyche eines Erwachsenen in pathologischem Maße beeinträchtigen. Im Kindesalter wirkt sie sich besonders stark auf die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit aus (Pynoos et al., 1995). Ausgehend von einer entwicklungspsychologischen Perspektive werden in diesem Beitrag allgemeine Prinzipien der Traumatherapie Kindern und Möglichkeiten beschrieben, EMDR mit Kindern zu praktizieren. Mehrere Fallstudien haben gezeigt, daß EMDR für Kinder mindestens ebenso hilfreich ist wie für Erwachsene (Chemtob, C. M., 1996; Cocco & Sharpe, 1993; Greenwald, 1993, 1994; Pellicer, 1993; Puffer et al., 1996; Scheck et al., 1996; Shapiro, 1991; 1995, S. 276-281).
Psychische Traumatisierung im Kindesalter kann als eine das Kind in seiner psychischen Entwicklung überfordernde Lebenserfahrung verstanden werden, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist, wie bei körperlicher Mißhandlung, sexuellem Mißbrauch, bestimmten Formen der Vernachlässigung, beim Verlust der Eltern, bei Unfällen und Katastrophen. In einer solchen Situation überfluten starke innere und äußere Eindrücke die kindliche Wahrnehmung. Kinder haben weniger Möglichkeiten als Erwachsene, belastende Erfahrungen psychisch abzuwehren und zu bewältigen. Situationen, die für Erwachsene noch angemessen und vielleicht sogar besonders erregend sind, können möglicherweise die Psyche eines Kindes bereits überfordern und überfluten.
Traumatische Sinneserfahrungen und damit verbundene Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Verhaltensmuster können aufgrund der Überlastung der Sinnessysteme nicht mehr auf gewohnte Weise ins Gedächtnis eingeordnet werden. Es fehlt dann die Verarbeitungskapazität, die neuen Erfahrungen bereits bestehenden Kategorien und Schemata richtig zuzuordnen oder gegebenenfalls neue zu bilden. Psychische Symptome treten auf, wenn derart unvollständig zugeordnete Erinnerungen gezielt oder unwillkürlich aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Bewältigungsstrategien solcher Symptome können selbst eine Störung bilden, wenn sie sich im Alltag als dysfunktional erweisen.
Sinneserfahrungen aus traumatischen Situationen kehren als Flashbacks (unkontrollierbar auftauchende Erinnerungsbilder) wieder; aus der traumatischen Situation stammende Gedanken werden zu negativen Überzeugungen über die eigene Person; zum Zeitpunkt des Traumas angemessene Gefühle und Körperempfindungen verunsichern, indem sie sich plötzlich in allen möglichen Gegenwartssituationen wiederholen; und unverarbeitete Verhaltensmuster aus der traumatischen Erfahrung können zu sogenannten Reinszenierungen führen: zu Wiederholungen von Verhaltensmustern aus der traumatisierenden Situation in Opfer-, Täter- oder Helferrolle.
Kinder bilden im Verlauf ihrer Entwicklung nach und nach kognitive Schemata, in welche sie neue Erfahrungen aufnehmen und einordnen (Assimilation), die sie aber auch erweitern und ergänzen können (Akkomodation). Traumatische Erinnerungen überfordern die altersgemäße Fähigkeit des Kindes, neue Eindrücke in symbolische und sprachliche Schemata einzuordnen, z.B. in das Realitätsschema (Zu wissen: "Es ist wirklich passiert"), ins Selbstbild ("Ich war es, dem es passiert ist") oder ins Zeitschema ("Es ist vorbei"). Besonders schwer können Kinder die Verantwortung für die Traumatisierung richtig zuordnen. Bei Traumatisierungen durch Familienmitglieder führen Gefühle wie Scham, Schuld, Wut und Rachegefühle zum Konflikt mit der Loyalität gegenüber der Familie und dem Grundgefühl der Zugehörigkeit.
Erfahrungen und Umgebungsreize zum Zeitpunkt des Traumas konnten aufgrund der starken sinnlichen Überreizung nicht differenziert im Gedächtnis verarbeitet und gespeichert werden. Somit wurden auch nebensächliche Details wie z.B. Tapetenmuster, Farben oder bestimmte Gerüche an die Angsterfahrung gekoppelt mit der Folge, daß nun jeder solche Reiz schon alleine die gesamte Angstreaktion auslösen kann. Eine solche Gefahrreaktion äußert sich in Impulsen zu aggressivem (Verteidigungsreaktion), vermeidendem (Fluchtaktion) und reflexhaft gelähmtem Verhalten (Todstellreflex) und ist fast immer von physiologischen Streßerscheinungen begleitet. Häufige Streßreaktionen des Körpers ohne reale Gefahr irritieren das Vertrauen des Kindes in seine Körperwahrnehmung und seine Gefühle.
Die Entwicklung der Fähigkeit, tiefe Gefühle differenziert auszudrücken, ist bei traumatisierten Kindern oft behindert: Schwierigkeiten, Gefühle in Worte zu übersetzen, behindern die Flexibilität des Handels und Reagierens und fördern Impulshandlungen. Und erst die Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation traumatischer Erfahrungen reduziert überflutende Angstgefühle und körperliche Streßkorrelate (Van der Kolk & Fisler, 1994).
Der Verlust der Fähigkeit, die Intensität von Gefühlen und Handlungsimpulsen zu kontrollieren, ist für Kinder die weitreichendste Folge traumatischer Belastungen. Die innere Selbstregulation wird besonders leicht gestört, wenn eine sichere Bindung zu den Eltern fehlt. Wenn die innere Selbstregulation nicht ausreicht, den emotionalen Zustand erträglich zu machen, versuchen Kinder, diesen mit Hilfe von äußerem Verhalten zu regulieren. Hierzu zählen aggressive und selbstschädigende Handlungen, Eßstörungen und Sucht. Die Fähigkeit zur Steuerung innerer Zustände beeinflußt wiederum das Selbstbild wie auch das Bild von Anderen und der Welt.
Schon eine einmalige Traumatisierung gefährdet frisch bewältigte und nachfolgende Entwicklungsschritte, und zwar nicht nur direkt, sondern in Interaktion mit der sozialen Umgebung und den Lebensverhältnissen, z.B. mit familiären und sozialen Erwartungen, die auf die innerpsychische Entwicklung zurückwirken (Pynoos et al., 1995).
Einige Kinder erwerben aufgrund früher traumatischer Erfahrungen eine Bindungsstörung, d.h. sie entwickeln dysfunktionale Verhaltensmuster gegenüber Bezugspersonen, auf die sie existentiell angewiesen sind. Es handelt sich meist um unauffällige Verhaltensmuster, die weder Andere noch das Kind zu schädigen scheinen, die es jedoch Bezugspersonen extrem schwer machen, die Beziehung zum Kind zu vertiefen. Oft sind ihnen die Gründe für die emotionale Ablehnung nicht klar. Eltern beklagen, daß die Kinder emotional nichts zurückgeben würden (James, 1989). Dies führt über Ablehnung, Aggression und Ausgrenzung oft zu mehrfach wechselnder Fremdunterbringung, die schon für sich genommen für Kinder eine traumatisierende Erfahrung darstellt (Doyle & Bauer, 1989) und dem Kind zu bestätigen scheint, daß es von niemandem gewollt ist und die Welt kalt und gefühllos ist. Therapeuten und Sozialarbeiter sollten diese Dynamik verstehen, um traumatisierte Kinder nicht unnötig durch Beziehungsabbrüche oder Beziehungswechsel zu belasten. (James, 1989).
Die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen führt von noch sehr sinnesnahen Erinnerungen in Form von Flashbacks zur Bildung einer narrativen Struktur aus erzählbarer realer Erinnerung und Bewältigungsphantasien. Wesentlich für die Bewältigung die innere Vorstellung, in der das Kind probehandeln und eine Auflösung finden kann. Diese Vorstellungen lassen sich in fünf Kategorien einteilen: 1. Phantasien zur Variation der traumatisierenden Ereignisse, 2. Ideen und Handlungspläne zur Unterbrechung der traumatisierenden Ereignisse, 3. Handlungspläne über alternative Ausgänge statt Tötung oder Verletzung, 4. Rachephantasien ohne Selbstgefährdung, 5. Handlungspläne zur Vermeidung zukünftiger Traumatisierung (Pynoos et al., 1995).
Kinder entwickeln die narrative Struktur für traumatische Erinnerungen am besten zusammen mit Menschen, an denen sie sich dabei orientieren können. Hat ein Kind die kognitiven Schemata und sprachlichen Kategorien zur Beschreibung der traumatischen Erfahrung noch nicht gebildet oder zugeordnet, braucht es Unterstützung von außen. Das Kind braucht Erwachsene, die mit gestalterischen oder sprachlichen Mitteln seine noch nicht versprachlichten Erinnerungen ansprechen und ihm dazu altersgemäße Sprachkategorien anbieten. Dies kann beispielsweise im Gespräch über Alpträume oder über Zeichnungen gelingen, über eigens für das Kind über die traumatische Erfahrung verfaßte Märchen oder im Dialog eines Rollenspiels. Nur über das Trauma zu reden genügt bei Kindern nicht, um traumatische Erinnerungen zu verarbeiten, weil dies eine narrative Struktur der Erinnerung voraussetzt, die erst durch die Verarbeitung im Verlauf der Therapie erreicht werden kann. Symbolische Mittel in der Therapie erlauben dem Kind, was ihm die Sprache verweigert: altersgerecht unaussprechliche, abgespaltene und unbewußte Inhalte zu integrieren (Schubbe, 1994). Schon Erwachsenen fehlen nach traumatischen Erfahrungen oft die Worte und sprachlichen Kategoreien, um ihre Erfahrung zu beschreiben. Umso mehr gilt dies für Kinder, deren Sprache und Begrifflichkeit für innerpsychische Vorgänge erst in der Entwicklung begriffen ist.
Nach den von Shapiro (1995) beschriebenen Wirkmechanismen regt wechselseitiges Händetippen oder jede andere bilaterale Stimulation das Sprachgenerationszentrum im Gehirn an. Shapiro beschreibt verschiedene Formen des Vorgehens mit EMDR bei Kindern (S. 276-281). Die bilaterale Stimulation kann sowohl mit der Vorstellung der traumatischen Situation, mit dem Malen eines Bildes, einer anderen Form der kreativen Gestaltung oder mit therapeutischem Märchenerzählen verbunden werden. In diesem Beitrag wird das Beispiel des Märchenerzählens näher erläutert.
Viele Kinder verarbeiten traumatische Erfahrungen im Verlauf weniger Monate ohne bleibende Schäden für ihre Entwicklung. Andere bewältigen ihre psychische Traumatisierung, indem sie sie verdrängen oder aktiv alles meiden, was sie daran erinnern könnte. Diese Bewältigungsstrategie kann lange funktional sein. Therapie benötigen nach einer traumatischen Erfahrung diejenigen Kinder, denen die Bewältigung und Verarbeitung nicht gelingt. Die Therapie traumatisierter Kinder erfordert folgende Rahmenbedingungen:
1. Wirksame Psychotherapie erfordert für Kinder zuallererst, vor erneuten Traumatisierungen geschützt zu sein. Ist ein Kind akut gefährdet, so verstärkt mangelnde Reaktionsbereitschaft von Eltern, Familie, Schule, Jugendamt, Polizei oder Gerichten nicht nur die Angst des Kindes, sondern fördert auch primitive Formen der Angstbewältigung. Über die objektive Sicherheit hinaus benötigt ein traumatisiertes Kind einen auch subjektive Sicherheit vermittelnden therapeutischen Rahmen, der dem Kind im Gegensatz zur traumatisierenden Situation die Möglichkeit bietet, sich gegen das Vorgehen zu wehren, Verbündete mitzubringen, sich Hilfe zu holen und - je nach Alter - jederzeit in Betreuung den Therapieraum zu verlassen. Shapiro (1995) empfiehlt Kindern, ihr Lieblingstier in die Therapie mitzubringen.
Selbstverständlich sollte es sein, daß das Kind den Namen des Therapeuten kennt, daß es den Ausgang zur Straße kennt und weiß, wie es die Elternperson erreicht, mit der es die Therapie jederzeit verlassen kann. Die Verarbeitung der traumatischer Erfahrungen kann in der Therapie erst beginnen, wenn sich das Kind nach eigenem Ermessen sicher fühlt. Von außen betrachtet kann bespielsweise eine stationäre Einrichtung ein Kind sehr weitgehend vor erneuter Traumatisierung schützen, während die Fremdunterbringung das Kind vielleicht tief beunruhigt. Die Rolle, das Kind vor weiteren traumatischen Erfahrungen zu schützen, sollten nach Möglichkeit die Eltern ausfüllen, ersatzweise der zuständige Sozialarbeiter, das Gericht oder die Polizei; keinesfalls jedoch darf diese Rolle unbesetzt bleiben.
2. Die Geschwindigkeit des Kindes bei der Auseinandersetzung mit traumatischen Inhalten soll immer respektiert werden, denn Kinder haben eine schwächere psychische Abwehr und weniger Bewältigungsmöglichkeiten als Erwachsene. Der Therapeut hat in der Therapie die Aufgabe, das Kind sehr genau zu beobachten, um die Konfrontation des Kindes mit seinen traumatischen Erinnerungen richtig zu dosieren. Wird die Behandlung mit Hilfe eines therapeutischen Märchens durchgeführt, sollte das Kind immer Augenkontakt zum Erzähler des Märchens haben; und umgekehrt sollte der Therapeut das Märchen unterbrechen, sobald der Augenkontakt für längere Zeit abreißt.
3. Um eine traumatische Erfahrung in der Therapie zu verarbeiten, benötigt ein Kind mindestens einen Menschen, zu dem es eine stabile und von Vertrauen getragene Beziehung hat. Denn Kinder verarbeiten ihre traumatische Erfahrung am besten im Kontakt und im Dialog. Viel mehr als Erwachsene sind sie auf die gemeinsame, auf die "Co"-Konstruktion ihres Bildes von sich selbst und der Welt angewiesen. Dafür sind die meisten Eltern ideale Partner, sofern sie ihr Kind nicht selbst traumatisiert oder dies wissentlich zugelassen haben.
4. Um Erinnerungen zu verarbeiten, die das Kind zunächst geheimhalten mußte oder über die im Kreis der Familie nicht gesprochen wurde, benötigt es die Erlaubnis mindestens einer Elternperson, nun über alles zu sprechen. Diese Erlaubnis sollte dem Kind entweder von den Eltern direkt gegeben werden, oder indirekt, indem die Eltern als erste beginnen, über das Geheimnis zu sprechen.
Es ist nicht sinnvoll und einem Kind nicht zuzumuten, in der Therapie über ein Geheimnis zu sprechen, das die Eltern noch aufrechterhalten. Dies bringt ein Kind in einen Loyalitätskonflikt, in dem es sich entweder gegen seine eigenen Interessen oder gegen seine Eltern entscheiden muß. Die meisten Kinder entscheiden sich in einem solchen Konflikt grundsätzlich immer für die Eltern, beachten elterliche Redeverbote und wahren Familiengeheimnisse. Eine Ausnahme bilden Kinder, die von sich aus ein Geheimnis oder Redeverbot in der Therapie brechen: dann ist es auch richtig, darauf einzugehen, dabei jedoch den Loyalitätskonflikt im Auge zu behalten.
Wenn Kinder Therapeuten belastende Geheimnisse anvertrauen, die sie keinem Anderen mitgeteilt haben, ist es Aufgabe des Therapeuten, eine dritte Person (z.B. Fachberater, Supervisor) ins Vertrauen zu ziehen. Können die Eltern eine Wiederholung der Traumatisierung nicht verhindern, muß sowieso das Jugendamt eingeschaltet werden. Je älter das Kind ist, desto wichtiger ist es, es aktiv zu beteiligen anstatt zu übergehen. Einerseits sind belastende Geheimnisse Therapeuten ebensowenig zuzumuten wie Kindern, andererseits braucht das Kind Vorbild und Anleitung dafür, wie es sich von belastenden Geheimnissen befreien kann.
Die hier beschiebene Kombination von EMDR und familienorientiertem Märchenerzählen wurde zuerst von Dr. Joan Lovette aus Berkeley berichtet, die ihre Arbeit 1996 auf dem EMDR-Kongreß in Denver vorstellte (Lovett, 1996).
Bei Kindern vor dem Grundschulalter eignen sich zur wechselseitigen Stimulation besonders gut leichte Berührungen der Hände, die vom Therapeuten, von einer Elternperson oder auch vom Kind selbst ausgeführt werden können. Augenbewegungen eignen sich eher für ältere Kinder und Jugendliche. Legasthenische Kinder kommen mit kleinen elliptischen Augenbewegungen oft besser zurecht, hyperaktive Kinder mit Augenbewegungen zwischen zwei an der Wand markierten Punkten (Shapiro, 1995).
Den Grad der emotionalen Belastung können Kinder leicht mit der Hand zu erkennen geben, indem sie die Hand so hoch über dem Boden halten, daß der höchste mit der Hand erreichbare Punkt der höchten Belastung entspricht. Dies ersetzt die bei EMDR mit Erwachsenen übliche Einschätzung des Belastungsgrades auf einer Rating-Skala. Die bei EMDR übliche Frage nach einem negativen Gedanken über die eigene Person kann bei ganz jungen Kindern weggelassen werden. Sobald die Kinder dazu in der Lage sind, reichen als positive Selbstkognition relativ weit gefaßte Selbstaussagen, z.B. "Es geht mir gut", "Ich bin sicher", "Ich darf jetzt alles sagen." Die positiven Selbstaussagen sollten bei Kindern unter 6 Jahren vorgegeben werden, danach sollten die positiven Gedanken mit ihnen gemeinsam entwickelt werden (Shapiro, 1995).
Zu Beginn der bilateralen Stimulation soll nach Shapiro die positive Vorstellung des Kindes von einem Ort, an dem es sich richtig sicher fühlt, angesprochen und verstärkt werden. Nachfolgend wird die äußere Struktur typisch verlaufenden Kindertherapie geschildert.
Der Ablauf kann folgendermaßen gegliedert werden:
1. Anamnese
2. Behandlungsplanung
3. Sitzung mit Kind und therapeutischer Geschichte
4. Nachgespräch mit den Eltern
5. Weitere Behandlungen nach Bedarf
6. Schlußevaluation und Abschied
Die Methode des mit EMDR kombinierten familienorientierten therapeutischen Geschichtenerzählens soll nun am Beispiel eines dreijährigen Mädchens dargestellt werden. Es war in einer Evangelischen Kindertagesstätte von ihrem dortigen Erzieher zusammen mit anderen Kindern durch sexuellen Mißbrauch psychisch traumatisiert worden. Das Mädchen litt seither an Alpträumen und entsprechenden Schlafstörungen, wusch sich zwanghaft häufig, reagierte phobisch auf kleine Tiere und ängstlich übererregt auf Männer, die nicht zur Familie gehörten. Neben ihrem gewohnt heiteren, intelligenten und klaren Wesen zeigte es nun immer wieder ganz unvermittelt eine sehr aggressive oder auch eine geistesabwesende Verfassung. Die Eltern hatten die beschriebene Therapie für ihr Kind von der Kriminalpolizei empfohlen bekommen und waren motiviert, ihre Tochter innerhalb der Therapie zu unterstützen. Zunächst lud ich nur die Eltern ein, um mit ihnen die individuellen Symptome und Ressourcen der Tochter wie auch die der Familie insgesamt einzuschätzen, ohne die Tochter unnötig mit belastenden Themen zu konfrontieren. Es lagen bereits ausführliche Protokolle über die Aussagen der Tochter vor. Auf dieser Grundlage bat ich die Eltern, eine altersgerechte Geschichte für und über ihr Kind zu schreiben, welche mit einer schönen Alltagssituation beginnen, dann die traumatisierende Situation zusammenfassen und abschließend den sichersten Ort in der Vorstellung der Tochter beschreiben sollte. Ich prüfte, daß die Geschichte keine Mißbrauchshandlungen beschrieb, die das Kind nicht selbst schon genannt hatte, um es nicht mit vermiedenem oder verdrängten Wissen zu konfrontieren und ihm keine Mißbrauchshandlungen zu suggerieren.
Die erste Sitzung für das Mädchen begann mit der Vorstellung, einem Begrüßungsspiel und der Erwähnung von drei Regeln: 1) Es ist alles erlaubt, das niemanden stört. 2) Es ist erlaubt, alles zu sagen. 3) Es ist erlaubt zu sagen, was einen stört. Anschließend führte der Vater seine Tochter durch den Therapieraum und ging ihr nach, um ihr alles zu zeigen. Sie bekam auch gezeigt, wie sie jederzeit den Raum verlassen konnte. Ich besprach den Ablauf der Sitzung mit den Eltern und der Tochter. Die Aktivität, die sie gewählt hatte, kam zuerst an die Reihe.
Danach las die Mutter die vorbereitete Geschichte vor. Ihre Tochter blickte sie dabei unverwandt und sehr aufmerksam an. Der Vater, der sie auf seinem Schoß hielt, drückte abwechselnd ganz liebevoll ihre linke und ihre rechte Hand. Als die Geschichte zu Ende war, schwitzte die Tochter. Sie erhob sich vom Schoß ihres Vaters, ging auf einen bereitliegenden Gymnastikball los und schlug mit beiden Händen auf ihn ein. Erst als sie sich mit Schlägen ein wenig verausgabt hatte, beruhigte sie sich wieder. Zum Schluß hatten alle Gelegenheit zum freien Malen bei entspannender Musik.
Das Märchen vom kleinen Mädchen
Es war einmal ein kleines Mädchen, das wohnte mit ihrer Schwester und ihrem Bruder in einem Haus aus Holz. Die drei Kinder schliefen in frischen weißen Betten. Ein kleines Vögelchen sang an ihrem Fenster. Sie saßen an kleinen Stühlen und spielten mit ihren Puppen. Die Mutter war in der Küche. Sie schälte Obst, kochte Marmelade und feine Suppen. Die Kinder kamen zusammen und aßen. Dabei redeten sie viel und machten Spaß miteinander. Das kleine Mädchen saß am liebsten neben ihrer großen Schwester.
Eines Tages kam das Mädchen in ein fremdes Land. Dort lebte ein Zwerg, der einen Besen hatte und sauber machte auf dem Bauch der Kinder. Der Zwerg hatte Spinnenfinger und er sagte, daß die Kinder leise sein sollen. Der Zwerg machte mit seinem Besen hin und her. Der Zwerg machte den Fuß des kleinen Mädchens schmutzig. Es gab in diesem fremden Land auch einen Fisch. Dieser Fisch zauberte Schnee. Der weiße Schnee fiel auf den Rücken des Mädchens, auf ihren Bauchnabel und auf ihren Mund. Es gab auch Löwen und Bären dort, die konnten spritzen. Das Mädchen hatte Angst vor diesen Tieren. Das kleine Mädchen wollte nach Hause, aber der Löwenbär hielt sie fest und schimpfte mit ihr. Er sagte, daß sie lieb sein solle. Das Mädchen weinte und war sehr traurig. Der Löwenbär sprang zwischen ihren Beinen hin und her und machte ein böses Gesicht. Er malte in ihrem Gesicht. Dann führte er sie durch ein großes Tor und das Mädchen kehrte zurück in das Holzhaus zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern.
Bald kam der nächste Sommer. Die Kinder sahen wunderbare Sonnenblumenfelder. Da waren auch viele weiße Kühe, die auf grünen Wiesen grasten. Die Kinder spielten an Flüssen und schliefen in einem kleinen Zelt auf der Wiese. Das kleine Mädchen bekam ein Fahrrad und es fuhr mit ihrem Bruder und ihrer großen Schwester im Park spazieren. Sie konnte sehr schnell Fahrrad fahren. Das kleine Mädchen hatte ein kleines Mützchen auf und lachte. Die Sonne schien hell und warm. Zu Hause im Holzhaus stand die Mutter in der Küche und machte dicke, fette Pfannkuchen mit Blaubeermarmelade. Das war wunderbar gut. Später im Herbst blühten am Fenster lila Astern, so feine schöne Blumen. Das kleine Mädchen saß vergnüglich neben ihrer großen Schwester und sang ein lautes, frohes Lied. Und die große Schwester, die hatte sie sehr lieb.
In der nächsten Sitzung mit den Eltern erfragte ich zunächst den Symptomverlauf seit der vorausgegangenen Behandlung ihrer Tochter. Deren regelmäßige Alpträume mit entsprechenden Schlafstörungen waren zurückgegangen. Die Eltern hatten keine Zwangshandlungen oder phobischen Reaktionen mehr beobachtet. Und auch das Verhalten gegenüber Männern, die nicht zur Familie gehörten, hatte sich weitgehend normalisiert.
Die Eltern berichteten, ihre Tochter habe sich mehrmals gewünscht, die Geschichte erzählt zu bekommen. Sie wolle von sich aus wieder zur Therapie kommen. Aufgrund der noch gelegentlich auftretenden Alpträume vereinbarten wir weitere Sitzungen mit dem Mädchen und den Eltern. Sechs Monate nach der ersten Behandlung war die dort erreichte Veränderung stabil geblieben und die Häufigkeit der inzwischen seltenen Alpträume weiter zurückgegangen.
Während es mit Kindern jeden Alters möglich ist, die Erinnerung an ein traumatisches Ereignis direkt anzusprechen, erscheint die Einbeziehung der Eltern und das Verfassen eines Märchens von besonderer Bedeutung, um die Sprachlosigkeit angesichts des Traumas zu überwinden und eine kindgemäße Sprachebene zu finden. Sind die Eltern nicht bereit oder in der Lage, ein Märchen zu verfassen, sollte auf andere Formen, das Trauma anzusprechen, zurückgegriffen werden. Shapiro (1995) beginnt die bilaterale Stimulation mit der Vorstellung eines sicheren Ortes und geht dann mit der Frage:"Stell' Dir vor, wie es passiert ist!" zur Bearbeitung der traumatischen Erinnerung über.
EMDR mit Kindern steckt selbst noch in den Kinderschuhen, so daß es weiterhin gilt, die bisherigen Erfahrungen zusammenzutragen. Die überraschend hohe Wirksamkeit von EMDR bei Kindern legt nahe, traumatisierten Kindern günstige Prognosen zu stellen. So sehr die vorliegenden Erfahrungen Grund zur Hoffnung geben, so falsch wäre es, für ein bestimmtes Kind den Heilungsverlauf vorherzusagen. Zu hohe Erwartungen von Eltern, Lehrern oder Freunden des Kindes über den Therapieerfolg setzen das Kind unnötig unter Druck (Silver & Wortmann, 1980). Umgekehrt sollten das Kind und die Menschen in seiner Umgebung lernen, die Symptome zu verstehen und mit ihnen zu leben. Wenn Erwachsene erkennen, daß das Trauma noch Einfluß auf das gegenwärtige Verhalten des Kindes hat, werden sie es nicht mit einer Überreaktion, einem Charakterzug des Kindes oder elterlichem Versagen verwechseln.
Literatur
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