Hilfe zu leisten erfordert eine gute Vernetzung und praktische Kompetenz, vor allem jedoch einen achtsamen Umgang mit den eigenen emotionalen Reaktionen. über diese Achtsamkeit möchte ich zuerst schreiben, da sie die Wirkung jeder Hilfeleistung vervielfachen, aber auch lähmen und ins Gegenteil verkehren kann.
Wenn wir erfahren, dass ein Kind sexueller Gewalt ausgesetzt ist oder war oder auch nur die Möglichkeit dazu besteht, reagieren unsere Gefühle nicht nur auf das Kind, seine Schwierigkeiten und die sowieso oft unzureichende Information über die Form der Gewalthandlungen. Sie sind häufig von unserer inneren Bilder- und Gedankenwelt bestimmt, von unserem Weltbild, von Vergleichen mit eigenen Kindheitserfahrungen und von unserer Chance, dem Kind zu helfen.
Ebenen der emotionalen Reaktion 1. auf die verfügbare Information über die Gewalterfahrung des Kindes 2. auf die eigene Phantasie über die Gewalterfahrung des Kindes 3. auf die posttraumatische Reaktion des Kindes 4. auf den eigenen Umgang mit der Auffälligkeit des Kindes 4. auf die verantwortlichen Erwachsenen 5. auf die eigenen Möglichkeiten, dem Kind zu helfen 6. auf die gesellschaftliche Realität sexueller Gewalt an Kindern 7. auf die Verletzlichkeit der eigenen Psyche 8. auf die eigenen Überzeugungen über die Bedeutung sexueller Gewalt 9. auf eigene Anteile, die sich mit dem Kind identifizieren 10. auf eigene vergleichbare Kindheitserfahrungen |
Wie können diese vielschichtigen Gefühle zum Ausdruck kommen? Bei Verbrechen dieser Tragweite entsteht eine Kluft zwischen einer gerade noch erträglichen und fühlbaren emotionalen Intensität und dem vollen Ausmaß der angemessenen Gefühle. Dieser Spalt zwischen Fühlbarem und zu Fühlendem gehört zum Wesen traumatischer Erfahrung. Er setzt sich in Spaltungen und Gräben fort, die als übliche Traumafolgen beschrieben werden: Innere Spaltungen zwischen Verstand und Gefühl, Wahrnehmung und Realität, Wissen und Handeln und äußere Gräben zwischen Opfern, Familien, sozialem Umfeld, Helfern und gesellschaftlichen Institutionen.
Die Wirksamkeit jeder Hilfe steht und fällt mit ihrer Kontinuität über diese Spaltungen und Gräben hinweg. Wer versucht, einem sexuell traumatisierten Kind aus eigener Kraft zu helfen, fühlt sich damit früher oder später überfordert. Damit inszeniert er für sich persönlich eine kindhaft-hilflose Situation. Wer sich in einer solchen Situation zeitweise oder ganz aus der helfenden Beziehung zum Kind zurückzieht, riskiert, das durch die Traumatisierung für Verluste besonders empfindsam gewordene Kind zusätzlich zu verletzen und sich im Muster der eigenen Reinszenierung zu verstricken. Möglichst früh und spätestens beim ersten Zeichen einer solchen Überforderung benötigen Helfer selbst die Unterstützung durch ein gut koordiniertes Helfersystem.
Erst wenn sich aus einzelnen helfenden Laien und professionellen Helfern ein arbeitsfähiges Netzwerk gebildet hat, wird die Frage nach den pädagogischen, sozialtherapeutischen, kriminalistischen und juristischen Möglichkeiten wichtig. Und im Helfersystem sollten emotionale Störungen, die durch die genannten Spaltungen und Gräben besonders leicht entstehen können, sofort angesprochen werden.
Besonderheiten der Interventionsphasen
Die Bedürfnisse sexuell traumatisierter Kinder unterscheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Kinder. Je nachdem, ob die Gewalthandlungen schon aufgedeckt und das Kind schon geschützt und therapeutisch versorgt ist, erlebt ein solches Kind jedoch belastende Lebenssituationen, in denen es spezifische zusätzliche Bedürfnisse entwickelt.
Ein Kind, das in seiner Notlage erkannt wird und Hilfe bekommt, durchlebt in der Regel vier unterscheidbare Interventionsphasen – Aufdeckung, Schutz, Therapie und Heilung – mit Kontakten zu mehreren und teilweise wechselnden Helfern. Da jeder Fall anders ist, gibt untenstehende Tabelle ein recht typisches Beispiel wieder.
Veränderung des Helfersystems im Verlauf der Interventionsphasen | ||||
---|---|---|---|---|
Phase
Helfer |
Aufdeckung | Schutz | Therapie | Heilung |
Familie, Freunde | X | X | X | |
Mitbetroffene | X | X | X | X |
Pädagogen | X | X | X | X |
Sozialarbeiter | X | X | X | |
Vertrauensperson | X | X | ||
Kriminalisten | X | X | ||
Helfende Zeugen | X | |||
Gutachter | X | |||
Juristen | X | |||
Therapeuten | X | |||
Journalisten | X | X |
Was kann man tun, wenn das Kind nicht geschützt werden kann?
Wenn das Kind sexuell traumatisiert worden und nun womöglich immer noch Gewalthandlungen ausgesetzt ist, kann es sich in der Verdachtsphase noch nicht wirksam mitteilen und findet kein Gehör. Da nur in den wenigsten Fällen genug äußere Indizien zur Überführung des Täters oder dritte Personen als Zeugen vorhanden sind, hängt die Klärung des Verdachts meist von der Qualität der kindlichen Aussage ab.
Das Kind ist darauf angewiesen, dass eine erwachsene Person seine tiefe Not erkennt und sehr angemessen handelt. Aber um sich mitzuteilen, muss das Kind enorme Hindernisse überwinden. Es fehlen ihm meist die notwendigen Worte für sexuelle Handlungen, und vor allem kann es die Konsequenzen der tabuisierten Aussage kaum abschätzen. In der Folge der Traumatisierung ist es außerdem nicht selten in einem emotionalen Dickicht von Ohnmacht, Angst, Scham und Schuldgefühlen sprachlos gefangen. So ist es verständlich, wenn das Kind die Folgen einer Aussage und vor allem die Reaktion der Erwachsenen mit Bruchstücken der Wahrheit oder mit symbolischen "Testballons" erkundet. Nennt das Kind schließlich seine tatsächliche Gefährdung, hat der vom Kind als Vertrauensperson ausgewählte Erwachsene die Aufgabe, für das Kind ansprechbar zu bleiben, um weitere Mitteilungen schriftlich zu sammeln und nach sorgfältiger Rücksprache mit dem Kind weitere Erwachsene einzuschalten. Hierzu ist es wichtig, sich vom Kind von Anfang an in kein Geheimnis einbinden zu lassen und Zusagen peinlich genau einzuhalten. In den meisten Fällen ist der Täter erziehungsberichtigt und die Verdachtsphase für das Kind unerträglich lange, bis es richtig geschützt wird. Obwohl der Schutz in dieser Phase das wichtigste Ziel ist, hat die Vertrauensperson auch und gerade während fortgesetzter Gewalthandlungen eine für das Kind hochgradig stabilisierende Funktion. Alice Miller beschreibt, welch entscheidenden Einfluss die Anwesenheit eines einzigen "helfenden Zeugen" bei fortgesetzter Gewalterfahrung für die kindliche Entwicklung hat.
Schutzbedürfnis
Der notwendige Schutz sexuell traumatisierter Kinder umfasst in erste Linie die Beaufsichtigung oder vollständige Unterbrechung des Kontakts mit dem Täter und außerdem den Schutz vor der Reinszenierungen einer Gewalterfahrung und vor der Stigmatisierung durch das Umfeld.
Während in den meisten Fällen das Jugendamt und die Justiz für die Begrenzung der Täterkontakte zuständig sind, hat das gesamte Helfersystem die Aufgabe, das Kind vor Reinszenierung und Stigmatisierung zu schützen.
Mädchen und Jungen sind in unserer Gesellschaft in Folge der Aufdeckung ihrer sexuellen Gewalterfahrung stark geschlechtsspezifischen Stigmatisierungen ausgesetzt: Mädchen werden mit Bezeichnungen wie Flittchen, Hure oder Lolita beschuldigt, die Gewalt selbst gewollt zu haben, und sie werden als psychisch kaputt ausgegrenzt, während in Wirklichkeit nur bei rund einem Drittel der sexuell traumatisierten Kinder und bei den meisten nur vorübergehend psychische Störungen diagnostiziert werden können.
"Ein Junge lässt sich nicht unterkriegen" wird schnell zu: "Ein Opfer ist kein richtiger Junge". Manche Jungen sind durch dieses Vorurteil tief verunsichert, denn sie schließen aus der Tatsache, dass ein heterosexueller Mann mit ihnen sexuell verkehrt hat, dass sie selbst homosexuell seien. Und die in der begrenzten Gruppe der Täter gültige Tatsache einer hohen Korrelation von Täterverhalten und sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit wird zu der unhaltbaren Behauptung verallgemeinert, männliche Opfer würden später zu Tätern.
Mit Reinszenierungen sind Gewalthandlungen gemeint, die in der Folge der sexuellen Traumatisierung auftreten, obwohl sie nicht mehr vom Täter ausgehen. Die Ursache der Reinszenierungen sind tückischer Weise meistens gerade diejenigen Bewältigungsstrategien, die dem Kind in der Zeit der Traumatisierung am besten geholfen haben, dem Opfer-Täter-Helfer-Dreieck entlehnt sind und in dieser Rollenkonstellation am besten funktionieren. Diese Bewältigungsstrategien, die sich im Zustand der Todesangst und womöglich vielfach bewährt haben, sind im Vergleich zu allen anderen Lernerfahrungen so tief eingeprägt, dass sie später wie ein universelles Patentrezept zur Bewältigung aller möglicher Probleme eingesetzt werden. Während das Leben sich in Tausenden von Rollen gestalten lässt, ihre Lösungsstrategien aber am besten im Opfer-Täter-Helfer-Dreieck funktionieren, sind traumatisierte Kinder besonders gefährdet, in einer dieser Rollen entgegen ihrer wirklichen Bedürfnisse zu verharren. Sie benötigen dringend bedeutsame Bindungserfahrungen mit alternativen Rollenmustern und neuen wirksamen Strategien zum Umgang mit belastenden Situationen und Gefühlen.
Therapeutische Begleitung
Die korrektive Wirkung neuer Lernerfahrung hängt ganz wesentlich von der Intensität der Bindung ab, in deren Rahmen sie gemacht wird. Ein traumatisiertes Kind ist so in ganz besonderer Weise auf eine ausreichende Vielfalt positiver Bindungserfahrungen angewiesen, gerade in einer Zeit, in denen ihre Familien die Tendenz haben, sich zu spalten und aus ihrem sozialen Umfeld zurückzuziehen. Therapie und Sozialarbeit sollten die Familie des Kindes begleiten, dem Kind tiefe, vielfältige und wenn nötig trotz aller schlechten Erfahrung auch neue Bindungen zu ermöglichen.
Die kindliche Entwicklung verläuft in einem sensiblen Gleichgewicht zwischen der Assimilation neuer Information in bestehende Schemata und der Erweiterung und Differenzierung der bestehenden Schemata zur Assimilation weiterer Information. Nach einer Traumatisierung kann die Assimilation der traumatischen Erfahrung und damit anderer damit indirekt zusammenhängender Lernerfahrungen blockiert sein. Je früher eine Psychotherapie unter Verwendung von EMDR oder einem ähnlich behutsamen traumaspezifischen Zusatzverfahren diese Blockierung lösen hilft, desto leichter kann das Kind wieder Anschluss an seine Entwicklung finden.
Pädagogische Begleitung
Der Verlust der Fähigkeit, die Intensität von Gefühlen und Handlungsimpulsen zu steuern, ist für Kinder die weitreichendste Folge traumatischer Belastungen. Die innere Selbstregulation ist dann besonders gefährdet, wenn eine sichere Bindung zu den Eltern fehlt. Wenn die innere Selbstregulation nicht ausreicht und der innere Zustand für Kinder unerträglich wird, versuchen ihn Kinder durch ihr äußeres Verhalten zu regulieren. Hierzu zählen auch aggressive und selbstschädigende Handlungen.
Unabhängig von der Symptomatik, besonders aber auch bei Konzentrations- und Lernstörungen, benötigen traumatisierte Kinder zuhause, in der Schule und in der Freizeit eine stabile Begleitung durch Erwachsene, die sie bei der Erreichung ihrer eigenen Ziele konsequent unterstützen und ihnen damit Erfolgserlebnisse verschaffen und konstruktives Verhalten verstärken.
Bei aggressivem und selbstschädigendem Verhalten hat sich eine sensible Kombination aus genauer Kenntnis der kindlichen Überreaktionen, sehr konsequent durchgehaltenen Grenzen und einer Portion Geduld bei der Erklärung der pädagogischen Konsequenzen bewährt.
Es gibt Kinder, die aufgrund traumatischer Erfahrungen eine Bindungsstörung entwickeln, d.h. dysfunktionale Verhaltensmuster gegenüber Bezugspersonen, auf die sie existentiell angewiesen sind. Es handelt sich meist um unauffällige Verhaltensmuster, die weder andere noch das Kind zu schädigen scheinen, die es jedoch Erwachsenen extrem schwer machen, die Beziehung zum Kind zu vertiefen. Oft sind die Gründe für die emotionale Ablehnung den Erwachsenen nicht klar. Eltern beklagen, dass die Kinder emotional nichts zurückzugeben würden. Dies kann zu mehrfach wechselnder Fremdunterbringung führen, die dem Kind zu bestätigen scheint, dass es von niemandem gewollt ist und die Welt kalt und gefühllos ist. Pädagogen, Therapeuten und Sozialarbeiter sollten diese Dynamik erkennen, um traumatisierte Kinder nicht durch Beziehungsabbrüche oder neue Beziehungen zu belasten.
Professionelle Helfer haben meist einen geschulten Blick für posttraumatische Symptome. Etliche sexuell traumatisierte Kinder reagieren jedoch noch nicht pathologisch, aber ihre Entwicklungsbedingungen sind in Folge der Traumatisierung bereits stark beeinträchtigt und können zu Symptomen führen, wenn sie nicht rechtzeitig positiv verändert werden. Zahlreiche Eltern, die sich zum Schutz des Kindes von ihrem missbrauchenden Partner trennen, geraten in der Folge durch geringe Unterhaltszahlungen und hohe Anwaltskosten gerade in einer Zeit an den Rand des Existenzminimums, in der sich oft auch Eltern und Freunde von dem schwierigen Thema distanzieren und sich die Familie selbst tendenziell von der Umwelt zurückzieht und so die zeitlichen und materiellen Ressourcen fehlen, das Kind optimal zu unterstützen. Alleine die Einarbeitung in die notwendige juristische Begleitung eines Kindes kann für Eltern so viel Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchen, dass andere wichtige Anliegen des Kindes aus dem Blick geraten. Wenn ein traumatisiertes Kind eine positive Bindung zu einem nicht missbrauchenden Erwachsenen hat, ist die therapeutische, soziale und juristische Unterstützung dieses Erwachsenen die eben so wichtig wie die direkte Hilfe für das Kind.
Literatur:
James, B. (1989). Attachment disturbance. In ders.: Treating traumatized children: new insights and creative interventions, 117-141. Lexington, Massachusetts: Lexington Books.
Miller, A. (2001). Evas Erwachen. Suhrkamp Verlag.
Schubbe, O. (1994). Therapeutische Hilfen gegen sexuellen Missbrauch an Kindern. Vandenhoeck und Ruprecht.